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Eine Fracht für das Museion – Hypatias Traum, Teil 2

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Es war ihre Ohnmacht, die Leonidas so sehr erschreckt hatte, dass er versprach, ihr eine Abschrift der Karte zu zeigen. Über die Erscheinung hatte sie ihm vorsichtshalber nichts erzählt. Was es damit auf sich haben könnte, wusste sie ja selbst noch nicht. Als er nun in einer kleinen Kammer seines Hauses den Papyrus entrollte, war Hypatia mehr denn je davon überzeugt, dass diese geheime Gruppe existierte. Sie musste über mächtige Mitglieder und Verbündete verfügen. Wie sonst war es möglich, eine Karte, die offensichtlich noch nicht den Gelehrten zugänglich gemacht werden sollte, abzuzeichnen? Mit klopfendem Herzen beugte sie sich über den Tisch mit dem Papyrus. Eine geübte Hand hatte das Wesentliche vom Original maßstabgetreu übertragen. Karten, die das Mittelmeer, seine Küsten und die Säulen des Herakles zeigten, waren verbreitet. Dieser Teil der Skizze bot also nichts Besonderes. Im offenen Atlantik waren jedoch anstelle der üblichen Ungeheuer drei Gruppen kleinerer Inseln und weiter entfernt eine große annähernd runde Landmasse eingezeichnet. Doch das war noch nicht der Grund für ihre Aufregung. Mit zitterndem Zeigefinger deutete sie auf die eher grobe Zeichnung eines Schiffes mit drei Rahsegeln vor den Säulen des Herakles. Ihr Finger berührte die Figur am Bug des Schiffes.

„Ein Drache“, flüsterte sie.

Leonidas stieß hörbar den Atem aus. „Warum ist das wichtig?“, fragte er. „Geschnitzte Drachenköpfe an Schiffen sind doch nicht ungewöhnlich“, fügte er noch hinzu. Es klang irritiert.

„Das kann ich dir nicht erklären – noch nicht“, stammelte sie. „Danke, dass ich es sehen durfte.“

Kopfschüttelnd und offensichtlich ein wenig ungehalten begleitete Leonidas sie zurück zum Museion. Doch er schwieg. So war es zwischen ihnen. Sie respektierten gegenseitig die Geheimnisse und Eigenarten des anderen. Als sie den Eingang zu Rhakotis, dem Stadtteil der Ägypter, passierten, fiel Hypatia eine sehr schlanke dunkelhäutige Gestalt auf. Die Frau stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und warf ihr einen eindringlichen Blick zu, bevor sie sich mit einem Zucken um den vollen Mund abwendete. Hypatia erschrak ein wenig. Das Gesicht der Frau erinnerte sie an die Büste der Nofretete, deren Abbildung auf einem alten Pergament sie oft bewunderte. Die Frau hatte große Ähnlichkeit mit der Gattin des Echnaton, einst Pharao von Ägypten.

In dieser Nacht war Hypatia auf ihren Traum vorbereitet. Furchtlos sah sie zu, wie sich aus den nahen Schatten am Himmel über dem Meer die Gestalten von Drachen schälten. Sie waren unterschiedlich groß, die kleinsten hatten die Größe von Kamelen. Im Näherkommen veränderte sich das Einheitsgrau in ein farbiges Spektakel aus Grün, Rot, Goldgelb, Braun, Violett, Rosa und Türkis, geradeso als hätte sich ein gigantischer Regenbogen über die Schar der Drachen gelegt. Mit mächtigen Flügelschlägen glitten sie über das Schiff hinweg. Ihr war so, als würde sich das Sonnenlicht an einigen Stellen in Schuppen, an anderen auf glattem Fell spiegeln. Als die gewaltigen Wesen das Schiff passiert hatten, drehte Hypatia sich einer Eingebung folgend zu dem dunklen Mann, der nur wenige Schritte von ihr entfernt seine Kapuze abstreifte. Sie sah in das Gesicht eines Vogels. Der Ibis öffnete den Schnabel und sprach mit tiefer, wohltönender Stimme: „Ich bin der Schlüssel.“

„Oh, ihr Götter!“, stieß Leonidas hervor. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, in dem sich Erregung, Sorge und eine Spur Misstrauen mischten. Bisher hatte er ihrer Schilderung mit unbewegter Miene gelauscht.

„Mir liegt sehr an deiner Meinung, was die Symbole in diesem Traum angeht“, sagte sie vorsichtig.

Sein zutiefst irritierter Blick überraschte sie. „Symbole!“, erwiderte er und schien zu überlegen. „Was haben wir?“, meinte er nach einer Weile. „Den offenen unbekannten Ozean, eine große ferne Insel, vielleicht ein Kontinent, Drachen, ein Mann mit einem Ibiskopf und ein Schiff.“

„Ein Schiff mit drei Rahsegeln und einem Ibis auf dem mittleren Segel“, präzisierte sie.

Während er bedächtig nickte, legte er langsam den Zeigefinger der linken Hand an sein Kinn. An dieser Geste erkannte Hypatia, wie sehr ihn die Angelegenheit beschäftigte. Abrupt sprang er von dem Sofa auf und begann, in ihrer Kammer auf und ab zu gehen.

„Also für die Analyse“, erklärte er in gewichtigem Ton, blieb stehen und warf ihr einen strengen Blick zu, „schlage ich vor, dass wir die Elemente deines Traumes nicht nur als Symbole ansehen, sondern auch als etwas, das – nun ja – tatsächlich existieren könnte.“ Im Weitergehen fuhr er fort: „Für unsere Überlegungen sollte es zunächst keine Rolle spielen, ob das eine oder das andere der Fall ist. Wir sammeln Ideen und verknüpfen sie.“ Mit Schwung ließ er sich wieder neben ihr auf das Sofa fallen.

Da überkam sie dieser kurze Schwindel, wie immer, wenn sie Feuer und Flamme für eine Sache war. Was Leonidas meinte, verstand Hypatia sofort. Sie brauchten Ideen und sie mussten ihre Fantasie bemühen. Nichts anderes taten Wissenschaftler. Ohne Neugierde und Kreativität in Bezug auf Fragestellungen und Strategien, mit denen man etwas über die Welt herausfinden konnte, ging es nicht.

Eifrig übernahm sie seine Methode: „Wir haben einen unbekannten Kontinent im unbekannten Ozean. Von dort startet ein Schiff, das die besten Schiffsbauer und geschicktesten Seefahrer unserer Zeit nicht bauen könnten. Das bedeutet …“

„… dass die Bewohner dieser Insel einer hoch entwickelten Zivilisation angehören“, vollendete Leonidas ihren Satz.

Ja, genau das war auch ihre Schlussfolgerung gewesen. „Und dieses Schiff befindet sich auf dem Weg ins Mittelmeer“, setzte sie nach.

„Das wissen wir nicht ganz genau, aber die Position des Schiffes vor den Säulen des Herakles spricht dafür“, gab er mit erhobenem Zeigefinger zu bedenken. „Sieht das Schiff in deinem Traum aus wie ein Kriegsschiff oder ein Handelsschiff? Oder ist es das prachtvolle Transportmittel eines Noblen, vielleicht eines hochrangigen Diplomaten?“, schob er hinterher.

„Es ist kein Kriegsschiff“, antwortete sie sofort. Da war sie sich völlig sicher.

„Ein gut ausgerüstetes Schiff, das kein Kriegsschiff ist, begibt sich auf große Fahrt“, fasste er zusammen. „Das macht nur Sinn, wenn es eine wichtige Fracht an Bord hat oder jemand, der sich ein solches Gefährt leisten kann, will eine Botschaft überbringen. Was könnte es sein?“

Vor Aufregung wurde ihr heiß. „Der Ibismann sagte, er wäre der Schlüssel“, erwiderte sie atemlos.

„Genau“, stimmte Leonidas zu.

Da wurde ihr klar, dass er sie zu dieser Schlussfolgerung geführt hatte. Wie geschickt! In diesem Augenblick überfiel sie eine Erkenntnis, die ihr die Sprache verschlug. Verblüfft starrte sie ihn an.

„Dein Gesichtsausdruck zeigt mir, dass du es erraten hast.“ Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Langsam nickte sie. „Thot, der ägyptische Gott des Wissens und der Schrift, wird in den alten Schriften und Wandmalereien mit einem Ibiskopf dargestellt.“ Wieso ist mir das nicht sofort eingefallen?, fügte sie im Stillen hinzu.

Als hätte er ihren Gedanken erraten, sagte er: „Auch Hypatia von Alexandria braucht manchmal eine Weile, um die Dinge zusammenzufügen.“ Er grinste, wurde aber sofort wieder ernst. „Die Fracht oder die Botschaft, von der ich gesprochen habe, könnte etwas mit Wissen zu tun haben. Der Ibiskopf auf dem Segel und den Schultern des Mannes deutet eindeutig in diese Richtung.“

„Schriftrollen!“, rief sie aus.

„Bestimmt kriegen wir die nur, wenn der Kapitän es will“, bemerkte Leonidas trocken.

Mit einem zustimmenden Nicken spann sie den Faden weiter: „Eine Zivilisation, die solche Schiffe bauen kann, wird wohl nicht nur über enormes Wissen, sondern auch über hoch entwickelte Waffen verfügen.“

Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. Hypatias Mund war trocken vor Aufregung. Schließlich sagte sie: „Das ist bisher alles irgendwie einleuchtend. Aber wir dürfen die Drachen nicht vergessen.“

„Du erinnerst dich an die Gespräche, die wir vor einiger Zeit geführt haben?“, fragte er und blickte sie eindringlich an. Seine dunklen Augen leuchteten.

Natürlich erinnerte sie sich. Vor einigen Monaten hatten Papyrusrollen für große Aufregung gesorgt. Nicht nur die Zeichnungen von Wesen, die als Drachen identifiziert wurden, und die Notizen dazu, waren eine Sensation. Timon von Antiochia, ein gebildeter Mann und angesehener Fernhändler, hatte die Rollen mit einem Schiff aus Tyros nach Alexandria gebracht, um sie dem Museion zu übergeben. Er erzählte den Gelehrten, dass er die Rollen von einem Perser in Damaskus erstanden hätte. Der wiederum hätte die Schriftrollen auf seiner Reise entlang der Seidenstraße in Samarkand erworben.

„Mit diesem Perser – seinem Wissen und Gebaren nach zu urteilen ein Gelehrter -, der aber seinen Namen nicht preisgeben wollte, führte ich ein langes Gespräch“, hatte Timon mit vor Aufregung etwas heiserer Stimme berichtet, „Beim Erwerb der Rollen wurde dem Perser gesagt, dass die Rollen bereits Kopien wären. Die Originalzeichnungen hätten sich auf einem eigenartigen Material befunden, ähnlich dem Papyrus, aber glatter. Auch gäbe es diesen Beschreibstoff nicht in Form von Rollen, sondern als Bögen. Man stelle sich das vor! Die fremden Schriftzeichen auf diesem merkwürdigen Material hat ein Sprachkundiger aus Samarkand ins Persische und ins Griechische übertragen. Das muss den Perser zusätzlich zu dem Preis für die Rollen ein Vermögen gekostet haben!“

Zusammen mit anderen Gelehrten hatten Hypatia und Leonidas die Drachenzeichnungen und die Texte mit Schriften verglichen, die sich auf Herodot bezogen. Herodot hatte wohl dereinst in Babylon Gespräche mit Händlern geführt, die von einem Kaiserreich im Osten berichteten und davon, dass dort die Drachen als weise und mächtige Wesen verehrt wurden.

Schließlich hatte Ezana, der berühmte Kunsthandwerker aus Aksum, sich noch zu Wort gemeldet und in gewichtigem Tonfall erklärt: „In der Bibliothek meiner Heimatstadt werden aus der Keilschrift übersetzte Aufzeichnungen über das Ischtar-Tor im alten Babylon aufbewahrt. Ein in den Stein des Tores gearbeiteter Drache galt nach der Vorstellung der alten Sumerer als Abbild ihres Hauptgottes Marduk.“

Diese Drachen hatten nichts mit den Schlangenungeheuern zu tun, die Hypatia und Leonidas aus ihren Sagen kannten. Es handelte sich nicht um furchterregende Wesen, die von Helden getötet werden mussten, um Prinzessinnen zu befreien.

Nun – wie geht es weiter? Das erfahren Sie am Ostermontag genau an dieser Stelle.

Bildnachweise: Die Karte stammt von Souza_DF auf Pixabay, der Drache stammt aus dem Kartenset Drachenweisheit von Christine Arana Fader, erschienen im Schirner-Verlag.