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Eine Fracht für das Museion – Hypatias Traum, Teil 1

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Dieses Mal konnte Hypatia erkennen, was auf dem mittleren der drei Rahsegel prangte. Es war die Seitenansicht eines schmalen fast schwarzen Vogelkopfes mit einem langen, golden glänzenden Schnabel. Ihr war nicht klar, wo genau sie sich befand. Sie musste irgendwo weiter hinten zwischen den Bänken der Ruderer stehen, aber noch vor dem letzten Rahsegel. Genau konnte sie es nicht sagen, denn ihre unmittelbare Umgebung blieb merkwürdig verschwommen. Trotzdem wusste sie, dass es mit diesem Schiff etwas Besonderes auf sich hatte. Ein Schiff mit drei Rahsegeln! Gab es so etwas überhaupt? In rasanter Geschwindigkeit zerschnitt es die Meereswogen, sodass die aufschäumende Gischt in feinem Nebel zerstob. Ob die Ruderer oder die aufgeblähten Segel oder etwas anderes dafür verantwortlich waren, entzog sich ihrer Kenntnis. Die Sonne malte helle Streifen in das Türkisblau des Meeres und überzog die Wellen mit einem glitzernden Netz.

Mit klopfendem Herzen richtete Hypatia ihren Blick auf den breiten Rücken eines großen Mannes, der ein paar Schritte von ihr entfernt an der Reling stand. Trotz der Hitze trug der Unbekannte einen dunklen Umhang. Die Kapuze hatte er über seinen Kopf gezogen und er schaute wohl zu der Insel, von der sich das Schiff fortbewegte. Auch sie sah jetzt zu dem immer kleiner werdenden Stück Land in den Weiten des endlosen Meeres. Da fielen ihr dunkle Punkte auf, die sich über der Wasseroberfläche auf das Schiff zubewegten und dabei immer größer wurden. Ihr Herz begann zu rasen. Trotz ihrer Angst verfolgte sie fasziniert, wie die Punkte zu einem dunklen Schatten verschmolzen, aus dem sich rasch Gestalten formten. Bald würden sie das Schiff erreicht haben. Im nächsten Moment drehte sich der dunkle Mann zu ihr um. Eine Schiffsplanke knarrte …

Hypatia schlug die Augen auf und blickte sich um. Nur ganz allmählich klärten sich ihre Gedanken, nicht so rasch, wie sie, Tochter des Theon, Bibliothekarin und Wissenschaftlerin am Museion von Alexandria, es von sich gewohnt war. Ihre Auffassungsgabe sowie ihre Fähigkeit, Zusammenhänge in Sekunden zu begreifen, ebenso wie ihre Redegewandtheit wurden über die Grenzen Ägyptens hinweg gerühmt. Dabei hielt sie sich wohlweislich zurück. Als eine der ganz wenigen Frauen in der von Männern dominierten Gelehrten-Zunft und Neuplatonikerin in einer Zeit, die immer mehr von der christlichen Religion und ihren Zwängen geprägt war, schien es ihr ratsam, ihre Talente nicht vollends preiszugeben. Allein ihr Vater und Leonidas, ihr Freund seit Kindheitstagen, wussten von ihrem Vermögen, die Welt auf eine Art zu erfassen, wie es wohl nur wenigen vergönnt war. Das Geräusch von schweren Holzkisten, die über den Boden gezogen wurden, hatte sie herausgerissen aus diesem Traum, den sie bereits kannte. Es kam ihr so vor, als würde die Traumszene jedes Mal etwas länger dauern, sodass sich mehr ereignete und offenbarte. Bestimmt sehe ich als Nächstes das Gesicht des Kapuzenmannes, überlegte sie, oder diese Schattenwesen überfallen das Schiff.

Von der aus dem Mauerwerk gehauenen Steinbank, auf der sie Platz genommen hatten, konnten sie zwischen zwei der vier Säulen, die die Nische abschlossen, den Wandelgang einsehen. Gelehrte und Schüler aus allen Teilen der bekannten Welt liefen vorbei. Einige schienen in großer Eile zu sein, andere ließen sich Zeit und musterten aufmerksam ihre Umgebung. Viele waren zu zweit oder in Gruppen unterwegs, oft vertieft in intensive Gespräche. Ungewöhnlich viele Angestellte und Sklaven ordneten Schriftrollen ein.

„Scheint so, als hätten die Schreiber sich damit beeilt, die Schriften aus dem persischen Schiff zu kopieren“, meinte Leonidas und grinste.

„Bestimmt hat mein Vater sie angespornt“, erwiderte Hypatia heiter.

„Wenn man sich vorstellt, dass die Kapitäne ihre Schriften herausrücken müssen und dann nur die Kopien zurückbekommen!“, meinte Leonidas.

Erstaunt blickte sie ihn an.

„Man könnte die Meinung vertreten, dass das reichlich unverschämt ist“, setzte er nach.

Das überraschte sie. Nachdenklich musterte sie Leonidas. So hatte sie es noch nie betrachtet. Seit Gründung der Bibliothek von Alexandria durch König Ptolemaios Soter wurde so verfahren. Alle Schiffe, die in den Hafen der Metropole einliefen, mussten ihre Schriftrollen an die königlichen Schreibwerkstätten übergeben, wo die Schreiber Tag und Nacht ihren Dienst verrichteten.

„Deine Gedankengänge inspirieren mich immer wieder aufs Neue“, erklärte sie ernst. Sie schätzte die Offenheit ihres Freundes, der zwar wie sie selbst der griechisch-makedonischen Elite von Alexandria angehörte, aber in seinem Stammbaum tummelten sich mehrere Nationalitäten, darunter auch Ägypter. Vielleicht hatte er deshalb häufig so fremdartige Ideen und Ansichten, die bei näherer Betrachtung aber durchaus Sinn ergaben. Sie liebte es, auf diese Weise dazu gezwungen zu werden, ihre eigene Sicht auf die Dinge und ihre Perspektive zu überdenken.

„Du bist eine der Wenigen, die das so sieht“, erwiderte er ernst.

Da hatte er wohl recht. Deshalb hielt er sich mit seinem Stammbaum und seinen außergewöhnlichen Ansichten fast immer zurück, so wie Hypatia aufpasste, nicht zu klug zu erscheinen.

„Also!“ Leonidas seufzte theatralisch. „Du hattest wieder diesen Traum. Erzähl mir davon!“

Nachdem sie ihm alles geschildert hatte, fixierte er sie eine Weile mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck. Es kam ihr so vor, als würde er mit sich ringen, als müsste er noch entscheiden, was er als Nächstes preisgab. Schließlich sagte er: „Drei Rahsegel! Da fällt mir etwas ein. Das persische Schiff hatte eine Karte des Mittelmeerraumes an Bord. Der Kapitän soll darüber ziemlich erstaunt gewesen sein. Die Rolle lag mit vielen anderen total eingestaubt in einer Abstellkammer.“

Als ein dunkelhäutiger Mann die Nische betrat, verstummte er. Hypatia kannte Elnatan aus Abessinien recht gut. Der Gelehrte beschäftigte sich mit Tieren und Pflanzen. Mit großer Begeisterung hatte er ihr vor einigen Tagen Abbildungen von Raubkatzen gezeigt. Nach den Beschriftungen handelte es sich um Tiere, die im aksumitischen Reich und noch weiter südlich vorkamen. Neben Löwen gab es auch Zeichnungen von etwas kleineren gefleckten Katzen – Leoparden. Aus für Hypatia unerfindlichen Gründen war Elnatan von ihnen ganz besonders fasziniert gewesen. Jetzt lächelte er ihr zu, stutzte dann, weil er augenscheinlich bemerkte, dass er störte. Er nickte knapp, nahm sich eine Schriftrolle aus einem Regal und verschwand wieder.

Etwas leiser fuhr Leonidas fort. „Niklas hat mir erzählt, dass die Gelehrten ganz aus dem Häuschen sind, weil auch das Meer jenseits der Säulen des Herakles eingezeichnet ist und zwar nicht mit den üblichen Ungeheuern, sondern mit – Inseln.“

„Oh!“, entfuhr es Hypatia. Ihr wurde ein wenig schwindelig. Das passierte ihr manchmal, wenn sie einer Sache unbedingt auf den Grund gehen wollte.

Nach einer kurzen Pause erzählte er weiter: „Und das ist noch nicht alles. Kurz vor den Säulen auf der Seite des Ozeans ist ein Schiff eingezeichnet. Es sieht aus wie ein besonders großes phönizisches Schiff – allerdings mit drei Rahsegeln.“

Das verschlug ihr vollends die Sprache. Für das Volk der Phönizier, deren letzte große Stadt bereits vor der Geburt des Gottessohnes der Christen von den Römern erobert und zerstört worden war, hegte sie großes Interesse. Die meisten Gelehrten, vor allem die Historiker, bewunderten in erster Linie die Schiffsbaukunst und den hochentwickelten Handel des Seefahrervolkes. Hypatia begeisterte vor allem das phönizische Alphabet, das immerhin die Grundlage der griechischen und lateinischen Schrift bildete. Sie fragte nicht nach der Quelle dieser brisanten Informationen, die sogar ihrem Vater, immerhin der oberste Bibliothekar, nicht oder noch nicht zugänglich waren. Ihr Freund verfügte über besondere Verbindungen. Das wusste sie aus langjähriger Erfahrung. Mittlerweile hegte sie sogar den Verdacht, dass er einer geheimen Gruppe angehörte – einer Gruppe, deren Mitglieder sehr gut informiert waren und außerdem Zugang zu altem Wissen hatten. Einige von ihnen mussten mächtig und einflussreich sein.

„Ein Schiff mit drei Rahsegeln, das über den Atlantik gekommen ist!“, überlegte sie laut. „Haben die Gelehrten eine Meinung zu dem Alter der Schriftrolle?“

„Pergament. Sehr alt“, erwiderte er knapp. Den Hinweis verstand sie genau. Bis hierhin würde er gehen, um sie einzuweihen, aber nicht weiter.

In diesem Moment nahm sie einen Schatten zwischen den zwei Säulen vor der Nische wahr. Verwirrt blinzelte sie. Aufgrund der herrschenden Lichtverhältnisse und der Bauweise des Wandelgangs konnte an dieser Stelle nichts einen Schatten werfen und schon gar nicht einen, der so groß war. Und dann geschah etwas Unfassbares. Wie in ihrem Traum formte sich aus dem Schatten eine Gestalt, von der zwischen den Säulen nur ein Teil zu sehen war. Was sich da aus dem dunklen Dunst herausschälte, blieb leicht durchscheinend, als wäre es aus Nebel gemacht. Ein schlanker Kopf mit vorgewölbter Schnauze und langen spitzen Ohren, abstehend wie bei einem Wüstenschakal, beugte sich nach unten. Das Wesen musste etwa so groß sein wie ein Kamel. Sein Gesicht war hellbraun, auf der Stirn erkannte sie eine feine schwarze Zeichnung. Zwischen den Ohren wehte eine Art Mähne, geradeso, als wäre es windig. Doch im gesamten Museion regte sich an diesem heißen Tag kein Lüftchen. Hellbraunes Fell mit dem gleichen Muster wie auf der Stirn umrahmte eine weiße Brust. Das Geräusch eines gewaltigen Flügelschlags drang gedämpft an ihr Ohr; sie meinte, krallenbesetzte Tatzen zu sehen.

Der intensive Blick aus goldenen Augen verursachte ihr Herzklopfen. Das Schiff auf dem Pergament. Sieh genau hin!, wisperte eine Stimme in ihrem Kopf. Sie nahm noch wahr, dass das Wesen sich wieder in Schatten hüllte und dann zerstob, als wäre es nie da gewesen. Dann versank sie selbst in Dunkelheit …

Nun – wie geht es weiter? Das erfahren Sie am nächsten Samstag genau an dieser Stelle. Das Titelbild stammt aus dem Kartenset Drachenweisheit von Christine Arana Fader, erschienen im Schirner-Verlag. Ich danke dem Verlag für die Erlaubnis, das Foto in diesem Beitrag zu veröffentlichen.