Neben der sogenannten High-Fantasy, deren Handlung sich von Anfang bis Ende in einer fantastischen Welt mit eigener Geographie und Geschichte abspielt, haben Erzählungen, in denen es Übergänge zwischen einer realen und einer fantastischen Welt gibt, ihren besonderen Reiz.
Sie beflügeln die Fantasie in besonderer Weise und setzen uns in Aufruhr. Wer träumt nicht davon, neue Welten und Dimensionen zu betreten mit nur einem einzigen Schritt! Das Kaninchenloch, durch das Alice ins Wunderland gelangt, und der Wandschrank, durch den die Geschwister Lucy, Peter, Suse und Edmund Narnia betreten, sind die wohl die bekanntesten Übergänge dieser Art.
In Astrid Lindgrens Kinderbuch Im Wald sind keine Räuber, einer Sammlung von Geschichten, begegnen uns weniger spektakuläre Übergänge, die nicht gleich in eine Parallelwelt führen, sondern eher auf eine andere Ebene der realen Welt. In der Erzählung Allerliebste Schwester ist ein Loch im Boden unter dem Rosenbusch in Barbos Garten der Eingang zum Reich ihrer geheimen Zwillingsschwester. In der gemeinsamen Sprache der Mädchen heißt der Rosenbusch Salikon.
In der Titelgeschichte Im Wald sind keine Räuber findet Peter sich unversehens im Puppenhaus wieder. Dort muss er sich, geschrumpft und zutiefst verwirrt, von der flotten Mimi ausschimpfen lassen. Gerade noch hat er, im Wohnzimmer stehend, auf die Puppe gezielt – mit einem Knallkorkenrevolver.
Sozusagen von Natur aus sind diese Übergänge, Tore oder Portale in fantastische Welten oder Bereiche willkürlich, ja, geradezu launisch. Sie funktionieren nämlich nicht immer, sondern nur dann, wenn sie es für richtig halten. Lucy erfährt dies schmerzlich, als sie ihren Geschwistern demonstrieren möchte, was sie gerade erlebt hat, nämlich, dass der Wandschrank in der Villa des alten Professors ein Durchgang ist – in das tief verschneite Narnia.
„Einer nach dem anderen schaute hinein und schob die Mäntel zur Seite. Lucy sah es nun auch. Sie fand keinen Wald und keinen Schnee, nur die Rückwand mit Kleiderhaken daran. Peter stieg hinein und polterte sogar mit den Fäusten an die Wand.“ (Lewis 1959: 22)
Mitunter ist die Funktionalität dieser Portale zeitlich begrenzt. So muss Barbo eines Tages feststellen:
„Heute morgen, als ich in den Garten kam, sah ich, dass alle Rosen des Salikon verwelkt waren. Und unter dem Rosenbusch war kein Loch mehr.“ (Lindgren 1963: 117)
Wie dem auch sei! Trotz Launenhaftigkeit und Willkür sind diese Übergänge auch wieder eine klare Sache. Wenn sie gnädig gestimmt sind, gelangt eine Person von einer Welt oder Ebene der Realität in eine andere. Doch so einfach ist es auch wieder nicht! Es gibt Eintrittspforten in völlig andere Dimensionen oder gar – zum Grunde von allem, zur Quelle, zur Essenz des Seins, zum Urknall …
Ein besonderes Portalerlebnis erwartet den Leser in Neil Gaimans Der Ozean am Ende der Straße. Ein Junge stellt seinen Fuß in einen Eimer, voll mit Wasser aus dem kleinen Teich auf dem Grundstück seiner Freundin. Doch der Junge geht unter und das Wasser eines Ozeans schlägt über ihm zusammen.
„Ich sah die Welt von oben und von unten. Ich sah, dass es dort Muster gab und Portale und Pfade, die weit über die Realität hinausgingen. Ich sah all diese Dinge und erfasste sie, und sie erfüllten mich, genauso wie das Wasser des Ozeans. Alles flüsterte in mir. Alles stand miteinander in Beziehung, und mir war alles vertraut.“ (Gaiman 2021: 264)
Ganz nebenbei bemerkt, bestätigt sich hier meine These, dass die Schreiber komplexer Phantastik auch in Sachen Spiritualität und Quantenphysik bewandert sind.
Bildnachweis: Das Titelbild, die Tür, stammt von Sean Wareing auf Pixabay / © Carolin Olivares Canas