WegBegleiter

Fuchs und Schneeleopard

Tief atme ich durch, nachdem ich fünfzig Seiten eines Manuskriptes gelesen habe. Es geht um eine junge Frau in Berlin, Epileptikerin, Auszubildende zur Buchhändlerin, leidenschaftliche Burlesque-Tänzerin, die ganz allmählich ihre Magie entdeckt. Ihre besonderen Fähigkeiten offenbaren sich beim Kartenlegen, nachdem sie mit Krafttieren Verbindung aufgenommen hat.

Mir gefällt die Geschichte, der Schreibstil spricht mich an, irgendwie nüchtern und ein wenig unterkühlt, aber vor meinem inneren Auge entstehen deutliche Bilder. Verdichtete Sprache – das mag ich. Die Autorin will mich als Lektorin, ich will diese Geschichte in meinem Lektorat. Wir haben uns gefunden!

Mit Fiona, der Protagonistin, verstehe ich mich sofort. Wie ich unternimmt sie lange, einsame Spaziergänge in der Natur und sie meditiert. Ich muss zugeben, dass ich sie bewundere, denn sie folgt ihrer Intuition, auch wenn es unvernünftig erscheint und alle ihr davon abraten. Intuition geht vor Verstand! So lautet auch mein Motto. Danach zu handeln, fällt mir immer wieder aufs Neue schwer.

Als ich nachdenklich über den Rand meines Bildschirms durch die Glastür der Loggia zu den Schrebergärten blicke, nehme ich aus dem Augenwinkel etwas wahr. Das irritiert mich. Die winzige Bewegung kommt aus der Ecke neben der Loggia. Da ist gerade genug Platz für meinen Lesesessel. Was geschieht dort? Mit gemischten Gefühlen drehe ich langsam den Kopf. Etwas Diffuses, Nebulöses füllt die gesamte Sitzfläche aus, windet sich, nimmt Gestalt und Farbe an. Eine sehr große Katze mit dunklen Flecken auf hellgrauem Fell hebt ihren breiten Kopf. Gelbgrüne Pupillen füllen nahezu ein gesamtes Auge aus. Die Katze sieht mich an.

„Wer bist du?“, frage ich, wohlwissend, dass ich mich wieder ins Zwischenreich begebe.

„Das weißt du doch!“ Die rauchige Stimme knistert.

Erst halte ich die Luft an, dann atme ich langsam aus, bevor ich erwidere: „Du bist ein Krafttier.“

Dein Krafttier.“ Sie räkelt sich wie eine Hauskatze.

Das verunsichert mich. „Ich habe einen Fuchs“, erkläre ich nachdrücklich.

„Ja, natürlich. Und ich bin ein Schneeleopard.“ Ungerührt streckt mein Gegenüber seine Vorderbeine und beginnt damit, sie abzulecken.

Mir schwindelt ein wenig. Was meint er damit? „Wer denn nun?“, stoße ich hervor. „Du oder er?“ Mich überkommt eine merkwürdige Verzweiflung. Mir ist, als würde ich mich in einem Traum im freien Fall befinden.

„Wir beide“, haucht der Schneeleopard, senkt die Beine und fixiert mich.

Schnell verliere ich mich in dem tiefgründigen Gelbgrün, eine Ahnung bahnt sich ihren Weg durch mein Hirn und mein Sonnengeflecht. „Haben alle Menschen zwei Krafttiere?“, frage ich vorsichtig.

„Nein“, schnurrt er.

Wieso kann eine Großkatze, und zu dieser Unterfamilie der Familie der Katzen gehört der Schneeleopard, schnurren? In diesem Moment wird mir klar, dass ich einiges über Katzen weiß, weil sie mich schon immer interessiert haben.

Ich warte, er räkelt sich wieder. Dann gähnt er ausgiebig, wobei er sein Maul aufreißt. Da wird mir ein klein wenig übel.

„Ist unterschiedlich“, erklärt er. Selbst diese banalen Worte klingen aus seinem Munde geheimnisvoll.

„Und das hat womit zu tun?“ Unruhe macht sich in mir breit.

„Mit dem Naturell, der Aura, früheren Leben …“

Jetzt schwitze ich.

„… mit deiner Seelenfamilie.“

Täusche ich mich oder hat er die Stimme erhoben? Sein Blick ruht auf mir. Völlig gebannt, ist es mir unmöglich wegzusehen. Mir kommt der Gedanke, dass er mich hypnotisieren könnte.

„Aha“, presse ich hervor. Oh, wie dümmlich!, füge ich stumm hinzu.

Nach einer gefühlten Ewigkeit entlässt er mich aus seinem Blick, schüttelt leicht das Haupt. „Du kriegst so viele, wie du eben brauchst“, sagt er leichthin.

Mein Verstand ist glasklar, meine Intuition hellwach. Würde ich schreiben oder malen, befände ich mich jetzt womöglich im Flow. „Sind es immer dieselben?“, frage ich. Wunderbare Ruhe breitet sich in mir aus.

„Ein oder zwei bleiben, andere kommen immer wieder, die meisten begleiten dich nur für eine Weile.“

Etwas in mir gerät in Schwingung, Gedanken wirbeln leicht in meinem Kopf. Die großen und die kleinen Arkana im Tarot, Schicksalskarten und Situationskarten, Typ- und Situationsblüten bei den Bachblüten …

„Dann bist du für mich neu und, nun ja, vorübergehend?“ , frage ich leise und vorsichtig.

„Natürlich nicht!“, erwidert er in ernstem Ton.

Sofort ist mir klar, wie dumm meine Bemerkung war. Schon in der Grundschule beschäftigte mich die Frage, wie der Schneeleopard zum weitaus bekannteren Leoparden steht? Ich stellte mir vor, dass sie nahe Verwandte wären. Später lernte ich, dass das gar nicht stimmt.

Mir fällt der Film Das erstaunliche Leben des Mister Mitty ein. In meiner Lieblingsszene trifft die Hauptfigur, dargestellt von Ben Stiller, seines Zeichens Leiter des Bildarchivs des Life‑Magazins, im Himalaya den Starfotografen Sean O‘Connell. Ein Schneeleopard erscheint, der Fotograf drückt den Auslöser nicht, genießt den besonderen Augenblick. Mitty ist ebenso irritiert wie fasziniert.

Für mich markiert die Begegnung mit dem stillen, machtvollen Tier den Augenblick, in dem Mitty sich endgültig von seinen Zwängen befreit, um sich wieder den Abenteuern zuzuwenden, die er sich als Kind für sein Leben vorgestellt hat. Eine außergewöhnliche Begegnung als Symbol für eine Umkehr, die eigentlich eine Rückkehr ist!

„Warum bist du bisher nicht in meinen Meditationen erschienen?“, werfe ich ihm vor.

„Das muss ich nicht.“

„Der Fuchs tut es.“

„Jeder hat seine eigenen Methoden.“ Sein Gähnen signalisiert mir, dass er sich allmählich langweilt.

Erschöpft schließe ich die Augen und frage mich, ob es klug war, diese Unterhaltung zu beginnen. Vor meinem inneren Auge formt sich eine Wiese. Ein einzelner Baum, eine Esche, steht in der Mitte. Ich ahne, was passieren wird. Mein Fuchs schleicht um den Stamm, kommt näher, bleibt knapp vor mir stehen, zwingt mich mit seinem gelben Blick, in die Hocke zu gehen. Auge in Auge fixieren wir uns.

Schließlich knurrt er: „Stell dich nicht so an!“ Ungehalten schüttelt er den rotbraunen Kopf. „Habe ich dich nicht gelehrt, dass es darum geht, die eigene Wahrheit zu erkennen und anzunehmen?“

„Ja, schon“, erwidere ich, „aber …“

„Dass du dich in dein Inneres zurückziehen sollst, um Kraft zu tanken und den geeigneten Moment abzuwarten“, fällt er mir ins Wort.

„Also wirklich!“, stoße ich empört hervor. „Was hat das mit dem Schneeleoparden zu tun?“

Allmählich gehen sie mir auf die Nerven – die Krafttiere mit ihren Weisheiten. Ein amüsiertes Schnauben ist zu hören. Natürlich kennt der Fuchs meine Gedanken.

„Was denkst du, wofür der Moment geeignet sein soll?“, fragt er in spöttischem Ton. „Warum sollst du dich sammeln und Kraft tanken?“

Mit klopfendem Herzen schaue ich mich auf meiner Wiese um. Sie grenzt an einen dichten alten Wald. Der schmale Weg, der zwischen zwei Kiefern hineinführt, ist hell erleuchtet. Bisher lag er immer im Halbdunkel oder in einem diffusen Zwielicht.

„Um weiter zu gehen“, flüstere ich.

„Lauter“, befiehlt er.

„Um weiterzugehen“, sage ich. Mir ist nicht recht wohl dabei.

„Lauter!“, donnert er.

„Um weiterzugehen“, brülle ich und möchte heulen.

Mein Fuchs nickt bedächtig. „So sieht es aus“, erklärt er mit sanfter Stimme. „Weitergehen auf dem eigenen Seelenweg, einen großen Schritt machen oder auch – zurückkehren auf den Seelenweg.“

Dunkel erinnere ich mich und beginne zu verstehen. „Deshalb ist der Schneeleopard gekommen“, hauche ich. „Es ist wieder mal so weit.“

„Ganz genau.“ Fast sieht es so aus, als würde der Fuchs lächeln. „Du bist bereit, es gibt kein Zurück.“

Mir wird leicht ums Herz, auf einen Schlag kehren Erinnerungen zurück. „Das letzte Mal, als der Schneeleopard zu mir kam, habe ich meinen Verwaltungsjob aufgegeben, um Ethnologie zu studieren“, flüstere ich ergriffen.

Wieder nickt mein Fuchs. Kurz schließe ich die Augen. Als ich sie öffne, bin ich zurück in meinem Arbeitszimmer. Der Schneeleopard blickt mich unverwandt an. „Alles klar“, fragt er. „Ja“, antworte ich, „alles klar.“

Text: © Carolin Olivares Canas, 2021 / Fotos: Schneeleopard v. Cédric Lambert auf Pixabay, lizenzfrei; Fuchs von Here and now, Pixabay, lizenzfrei