WegBegleiter

Die Treppe

Frühling 1962

Auf der obersten der unebenen dunklen Holzstufen saß eine grüne Fee im Schneidersitz, so groß wie die Hand des kleinen Mädchens. Mit dem Rücken lehnte die leuchtend Grüne gegen die raue Wand, sie blinzelte.

„Silvia, mein Schatz, pass gut auf!“ Die Stimme der wichtigsten Person im Leben des Mädchens zitterte ein wenig. „Die Treppe ist steil. Wenn du hinuntersteigst, dann halte dich am Geländer fest.“

„Mama“, sagte Silvia, blickte hoch und lächelte die Frau an. Die Stimme der Fee erklang in ihrem Kopf: Sie hat Angst um dich, das ist normal. So sind Mütter. „Hm“, murmelte Silvia. Ich will nicht, dass Mama sich Sorgen macht, fügte sie stumm hinzu. Sie wusste, dass die Fee ihre Gedanken hören konnte. Aber ich muss diese Treppe runter, ergänzte sie. Ich weiß, gluckste die Fee.

Langsam und mit Bedacht setzte sich Silvia auf die erste Stufe. Dort unten wohnten Oma und Opa. Sie würden sehr überrascht sein, wenn Silvia ganz allein in ihre Küche käme auf einen Kakao. Aber es ging nicht nur um Omaopa und Lob und Kakao, es ging um viel mehr. Diese Treppe war der Anfang – von allem. Sie spürte das raue, warme Holz unter ihrem Po und fühlte sich sicher. Aufstehen, sagte die Fee, sonst ist es nicht richtig. Auf keinen Fall runterrutschen!

Silvia zog sich am Geländer hoch. Mama stöhnte. Sie wusste, dass ihre Mutter Höllenqualen litt, aber sie würde durchhalten. Von der Wand warf die hübsche Dame mit dem Blumenhut ihr einen verträumten Blick zu. Alles ist möglich, flüsterte sie. Genau, bekräftigte die Fee, die jetzt neben dem Bild schwebte. Tief atmete Silvia durch. Nun war es so weit.

Mit beiden Händen am Geländer setzte sie einen Fuß auf die nächste Stufe. Ihr Herz hüpfte. Dass es ihrer Mama schlecht ging, spürte sie im Bauch. Deshalb war sie sehr, sehr vorsichtig. Eine Stufe nach der anderen, am Geländer festhalten, ruhig bleiben. Die Diele im Erdgeschoss rückte näher. Oma klapperte in ihrer Küche mit irgendetwas. Opas Pfeifenrauch hing in der Luft. Halbzeit, jubelte die Fee.

„Oma“, rief Silvia fröhlich und hockte sich auf eine Stufe in der Mitte der Treppe. Zwischen den Stäben sah sie nach unten. Wie wunderbar. Die Diele, die Tür zum Hof. Der Engel – er kniete auf der Kommode. Sie war zu weit weg, um sein Gesicht zu erkennen, aber sie war sich ganz sicher, dass er ihr freundlich zunickte. Alles sah ganz anders aus als sonst. Wie aufregend. Sie war auf dem Weg, sie ganz allein.

„Schatz, halt dich gut fest.“ Mamas Stimme klang sanft und ein wenig kraftlos. Silvias Mutter war zwar oft krank, aber zäh. Das wusste Silvia auf die Art, wie kleine Kinder ihre Mütter kennen. „Jaaa“, erwiderte sie.

Die grüne Fee flatterte vor ihrem Gesicht. Genug Pause gemacht!, erklärte sie im Befehlston, zog die Brauen hoch und neigte den hübschen Kopf in Richtung Diele. „Opa“, rief Silvia. Jetzt wurde ihr nämlich mulmig und ihr Opa war ein großer, starker Mann mit Bart. Los geht’s, zischte die kleine Grüne.

In Silvias Bauch verknotete sich etwas, ihr wurde ein wenig übel. Aber sie spürte, dass sie weitergehen musste. Dies war ihr Weg für diesen Moment und der erste Schritt auf einem viel längeren Weg. Sachte schaukelte die Diele vor ihren Augen, als sie sich am Geländer hochzog. Der Engel lächelte ihr von unten aufmunternd zu. Mit zitternden Beinen stieg sie weiter nach unten.

„Du machst das sehr gut, mein Schatz.“ Mamas Stimme klang jetzt eher freudig. Wieso nur? Vor dem Hinsetzen war das Ganze ein wunderbares Abenteuer gewesen, jetzt war es beängstigend und mühsam. Nur noch wenige Stufen. Die nächste schien so weit entfernt zu sein wie die Straße, wenn Silvia auf dem Balkon stand und hinuntersah. Aber der Engel kam näher, das gab ihr Kraft. Langsam legte sie den Oberkörper etwas nach hinten und streckte ihr Bein sehr lange. Da war die Stufe. Ein Gefühl von unendlicher Freiheit flutete ihr Inneres. Lachend nahm sie noch zwei Stufen. Dann drehte sie sich um: „Mama!“ Ihre Mutter winkte und lächelte. Silvia hatte den Eindruck, dass ihre Augen glitzerten. „Das hast du so gut gemacht!“, sagte Mama.

Silvia wandte sich wieder um. Knapp vor ihrem Gesicht hing die Fee und jubelte: Großartig. Dann schlug sie einen Purzelbaum in der Luft und flog Richtung Küche.

Eine Tür flog auf, Opa trat heraus in die Diele. Mit großen Augen nahm er die Pfeife aus dem Mund. „Ist das Kind mit seinen zweieinhalb Jahren alleine die Treppe runter?“, brummte er vergnügt. „Ja, Papa“, sagte ihre Mama.

„Omaopa“, brüllte Silvia, ging auf der letzten Stufe ganz leicht in die Hocke, konzentrierte sich und – hüpfte in die Diele ins Leben.

© Carolin Olivares Canas, Lektorat Carolin Olivares, WegBegleiter