WegBegleiter

Freya oder Ostara

Das Frühlingsfest der Germanen

Unsere germanischen Vorfahren waren nicht in erster Linie Krieger und Eroberer, sondern Bauern. Ihr Überleben hing vom Wetter und den Ernten ab. Daher verwundert es nicht, dass sie ihr gesamtes Leben nach den Jahreszeiten ausrichteten. Zur Frühlingstagundnachtgleiche am 21. März feierten sie das Erwachen der Natur und baten die Götter um Segen für eine gute Ernte. Häuser wurden mit frischem Grün geschmückt. An Brunnen und Quellen wurden Blumen und Eier, die damals schon als Fruchtbarkeitssymbole galten, ausgelegt. Viele dieser Bräuche haben die Christianisierung überdauert, werden an Ostern und am ersten Mai weiterhin gepflegt.

Unser Wissen über die Germanen stammt aus Sagen und Erzählungen, die allerdings erst im frühen Mittelalter niedergeschrieben wurden wie die Edda und die Islandsagas. Eine weitere Quelle sind die Schilderungen der Römer und Griechen, die ausführlich über ihre barbarischen Kriegsgegner berichteten. Rückschlüsse lassen auch die gerade erwähnten alten Bräuche zu. Jedoch verfügen wir eben nicht über absolut gesichertes Wissen, es bleibt Raum für Interpretationen. Diesen Umstand sollten wir immer im Auge behalten.

Trotz der etwas ungenauen Quellenlage können wir davon ausgehen, dass unsere Vorfahren den Frühling in erster Linie den jungen Göttinnen weihten. Dies liegt auch deshalb nahe, weil Menschen ganz offensichtlich diese Jahreszeit mit Themen wie Jugend, Erwachen, Aufbruch und Fruchtbarkeit assoziieren. Das können wir erst recht für unsere Vorfahren annehmen, deren Leben sich noch viel stärker an der Natur und den Jahreszeiten orientierte.

Die Zeit der jungen Göttin

Zwei germanische Göttinnen scheinen einen besonderen Bezug zum Frühling zu haben. Eine davon ist Freya, eine Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin, berühmt für ihre Schönheit und ihre Zauberkünste. Es finden sich Hinweise darauf, dass Freya es mit der Treue nicht so genau nimmt. Als Anführerin der Walküren geleitet sie die gefallenen Krieger nach Walhalla. In einem Falkengewand erhebt sie sich in die Lüfte, in einem von Katzen gezogenen Wagen jagt sie über Erde und Himmel. Sie ist in jeder Beziehung frei, unabhängig und furchtlos.

Eine andere Gestalt ist wahrscheinlich nur eine Erfindung oder besser eine Verdichtung von Hinweisen. Sprach- und literaturwissenschaftliche Studien führten keinen Geringeren als Jacob Grimm zu der Annahme der Existenz einer germanischen Göttin namens Ostara, die auch dem Osterfest den Namen gab. Dass unsere Vorfahren einer germanischen Göttin namens Ostara huldigten, ist höchst umstritten, der Kult einer Frühlingsgöttin mit besonderen Merkmalen und Eigenschaften allerdings nicht.

Für meine Zwecke nenne ich genau diese Frühlingsgöttin Ostara. Sie ist sanft und lieblich, erstrahlt in hellem Licht und hat die Macht, die Natur zum Leben zu erwecken. Reinheit und Frische gehören zu ihren Attributen. Mit einem Wagen, der von Hasen gezogen wird, fährt sie von Osten kommend über die Lande, woraufhin alles erblüht.

In Freya und Ostara begegnen uns zwei unterschiedliche Frühlingsgöttinnen oder auch zwei Typen von (jungen) Frauen. Die Eine, feurig und leidenschaftlich, ist sich ihrer Vorzüge bewusst und geht mutig ihren Weg. Sie hebt ab, im wahrsten Sinne des Wortes, wie Freya in ihrem Katzen‑Wagen oder Falken‑Gewand. Die Andere erscheint eher sanft und zurückhaltend, zieht daraus allerdings die Kraft, etwas Neues zu erschaffen, ist also in höchstem Maße kreativ.

In einem nächsten Schritt stellt sich die Frage, ob wir es tatsächlich mit unterschiedlichen Typen zu tun haben oder doch eher mit zwei Seiten einer Person. Ob die Energie von Freya oder Ostara gerade passt, kann sogar von unserer momentanen Stimmung abhängen. Wie sind wir drauf? Was ist gerade unser Thema? Ist es für uns jetzt an der Zeit, feurig, leidenschaftlich und offensiv voranzupreschen oder ruhig und still unsere inneren Kräfte kreativ zur Geltung zu bringen? Finden wir es heraus während einer meditativen Reise.

Meditation: Begegnung hinter der Quelle

Wenn Sie mögen, können Sie sich zur Vorbereitung über Freya und Ostara informieren – anhand der umfangreichen Literatur oder im Netz. Suchen Sie sich einen ruhigen Platz in der Wohnung, auf dem Balkon, im Garten oder in der Natur. Stellen Sie sicher, dass Sie eine Weile ungestört sind.

Setzen Sie sich und schauen Sie sich um. Machen Sie sich noch einmal klar, was Sie mit dem Frühling verbinden. Denken Sie dann eine Weile an Freya und Ostara. Kommen Sie nicht ins Grübeln, lassen Sie eher Bilder in Ihrem Kopf entstehen.

Dann schließen Sie die Augen. Atmen Sie einige Male tief ein und aus. Beobachten Sie Ihre Gedanken. Versuchen Sie nicht, Ihre Gedanken zu unterbinden oder völlig auszublenden. Lassen Sie sie vorbeiziehen, sodass sie in den Hintergrund treten, ohne völlig zu verschwinden. Versuchen Sie folgenden Rhythmus einzuhalten: einatmen – Atem kurz halten – etwas länger ausatmen. Mit jedem Einatmen gehen Sie etwas tiefer in sich.

Stellen Sie sich vor, dass Sie aufstehen und loslaufen. Vielleicht haben Sie bereits ein Krafttier, einen Drachen oder einen anderen inneren Gefährten. Wenn Sie mögen, laden Sie einen oder mehrere Gefährten ein, Sie zu begleiten. Gemächlich spazieren Sie durch ein Feld und eine blühende Wiese zu einem Wald. Nehmen Sie diese innere Umgebung wahr. Was sehen Sie? Welche Farben herrschen vor? Welche Tiere, Insekten und Vögel tauchen auf? Wie riecht es? Geben Sie sich ganz den Sinneseindrücken hin und lassen Sie die Gefühle zu, die sich einstellen. Mit jedem Schritt spüren Sie sich stärker.

Sie betreten einen lichten Mischwald und folgen einem schmalen Pfad. Schauen Sie sich um. Wie sieht es aus? Sie hören das Geräusch von plätscherndem Wasser., umrunden einen Felsen und durchschreiten ein Wäldchen von jungen Buchen. Ein kaum erkennbarer Pfad führt zu einer Quelle, die aus einem Felsen hervorsprudelt.

Instinktiv wissen Sie, dass das Buchenwäldchen nur wenige Meter hinter der Quelle endet, aber Sie können nicht sehen, was sich dort befindet. Sie setzen sich auf einen Stein und blicken in das Wasser der Quelle. Welcher Ausdruck liegt auf dem Gesicht, das sich Ihnen zeigt? Dann schließen Sie Ihre inneren Augen und atmen eine Weile ganz bewusst und entspannt. Sie lauschen, riechen und spüren in sich hinein.

Wenn Sie bereit sind, öffnen Sie die Augen, erheben sich und durchqueren zügig das Wäldchen. Der Weg führt einen kleinen Hügel hinauf. Machen Sie sich bereit! Instinktiv wissen Sie, dass der Buchenwald auf dem Hügel endet. Sobald Sie oben angekommen sind, werden Sie einen freien Blick haben – auf eine prächtige weite Graslandschaft mit Bergen im Hintergrund oder auf ein wunderschönes blühendes Feld.

Jetzt erreichen Sie den höchsten Punkt des Hügels. Was sehen Sie vor sich? Genießen Sie den Anblick. Dann betreten Sie die Landschaft und gehen einige Schritte. Halten Sie Ausschau und lauschen Sie! Hören Sie das Geräusch eines heranfahrenden Wagens? Wer erscheint? Katzen oder Hasen? Freya oder Ostara?

Begrüßen Sie die Göttin und ihre Tiere. Stellen Sie folgende Frage: Warum treffe ich dich? Genießen Sie das, was kommt. Es ist gleichgültig, ob Sie eine Unterhaltung führen oder nur die Gegenwart der Göttin spüren. Alles ist möglich. Sie können sogar zu einer Fahrt eingeladen werden …

Wenn Sie bereit sind, verabschieden Sie sich. Wenden Sie sich entschlossen um und gehen Sie zurück zum Wäldchen. Ihr Rückweg ist genau der Weg, den Sie gekommen sind. Der höchste Punkt des Hügels, Buchenwäldchen, die Quelle, der Felsen, wieder Buchenwäldchen, der Mischwald, der Waldrand, die Weise, das Feld.

Am Feldrand angelangt, nehmen Sie mit dem nächsten tiefen Ausatmen ganz bewusst wieder Platz in Ihrer Wohnung, auf dem Balkon, im Garten oder irgendwo in der Natur. Atmen Sie einige Male. Mit jedem Ausatmen nähern Sie sich ihrer Alltagsebene. Machen Sie sich jetzt bereit! Öffnen Sie die Augen, schauen Sie sich um, bewegen Sie Arme und Beine. Sie sind zurück!

Text: © Carolin Olivares, WegBegleiter

Bildrechte: Die Bilder von Freya und Ostara stammen aus dem Kartendeck Orakel der Göttinnen von Doreen Virtue, erschienen im Koha-Verlag. Freundlicherweise hat der Verlag die Bilder zur Verfügung gestellt.

Verwendete Literatur / Nachschlagewerke:

De las Heras, Brigitta (2020): Die Reise durch den Jahreskreis. Darmstadt: Schirner-Verlag

Günther, Sybille (2011): Wilde Stämme. Kinder spielen Kelten und Germanen. Münster: Ökotopia

Virtue, Doreen (2016): Orakel der Göttinnen, Begleitheft zum Kartendeck. Burgrain: Koha-Verlag