Wenn die Heldin aus dem Fantasy‑Epos mit der Lektorin philosophiert …
Als berühmte Schwertmeisterin kehrt die Graselfe Esmanté d‘Elestre in ihre Heimat zurück, um vor anrückenden Orks zu warnen. In einem Gefecht wird sie von ihren Gefährten getrennt und schwer verletzt. Loglard, ein geheimnisvoller Magier der verfeindeten Waldelfen, rettet ihr Leben. Sie verlieben sich ineinander, doch die Verbindung bringt beide in Gefahr. Unterdessen überschlagen sich die Ereignisse im Lande Tiranorg. Nach Jahrhunderten erhebt sich der grausame Geheimbund der Arsuri erneut. Die sagenumwobenen Meerelfen betreten den Boden Tiranorgs, weil sie vom Untergang bedroht sind. Esmanté muss erkennen, dass sie im Kampf um die Macht in Tiranorg eine wichtige Rolle spielt – in einem Kampf, dessen Regeln sie nicht kennt. (Klappentext aus Tiranorg – Schwertliebe)
Eins ist sicher: Der erste Band von Judith M. Brivulets High‑Fantasy-Epos erfüllt das Versprechen des Klappentextes. Und die Protagonistin hat es in sich. Gerade habe ich eine von vielen rasanten Szenen aus Tiranorg – Schwertliebe miterlebt. Schweratmend wende ich mich vom Bildschirm ab und schaue eine Weile aus dem Fenster. Meine Güte, da muss die Lektorin erst mal runterkommen. Was tun? Füllwörter checken? Entfrachten? Schauen, wo die gewollt einerseits etwas altertümliche, andererseits stellenweise auch etwas derbe Sprache noch passt? Oder einfach alles lassen, wie es ist?
Hinter meinem Laptop bewegt sich etwas – dann ein Flimmern. Aha, so weit sind wir also wieder. Es hat mich gepackt und ich fange an, mit den Figuren zu reden. Als ich aufblicke, sitzt sie grinsend auf dem Computer in der Größe einer Barbie‑Puppe: Die Graselfe Esmanté: schlank, durchtrainiert, mit markantem Gesicht und diesem umwerfenden goldblonden Zopf.
Leicht spöttisch zieht sie die Brauen hoch. „Trinkt lieber ein Bier, Leserin!“ Sie steht auf, duckt sich, spannt die Muskeln, springt hinüber aufs Sofa und lümmelt sich auf ein Kissen. „Uh, viel zu weich“, schimpft sie. Dann rollt sie sich auf die Seite, stützt den Kopf auf den angewinkelten Arm, zwinkert mir zu und erklärt: „Bau bloß keinen Mist, Leserin!“
„Wie meinst du das?“ Ich bin irritiert. Was bildet sich diese Kampf-Elfe aus einem Fantasy-Epos ein? Ich bin diejenige, die sich mit Erzählperspektive, Füllwörtern, Rechtschreibung und Grammatik auskennt. Eine Protagonistin hat mir nun wirklich nichts zu sagen. Ein intellektueller Konter scheint mir das Richtige in diesem Fall. „Ist dir klar, dass das Fantasy-Genre in den Siebzigern auch deshalb boomte, weil die psychologischen Kinder-und Jugendbücher der 68er nicht funktioniert haben?“
Esmanté gähnt. „Ihr beliebt, zu schwafeln.“ Sichtlich gelangweilt bläst sie sich eine goldene Strähne aus dem Gesicht.
„Etwas mehr Respekt stünde dir schon an.“ Allerdings muss ich grinsen, denn nichts anderes habe ich erwartet. Genauso will ich sie erleben, genauso hat ihre Schöpferin sie angelegt.
Sie erwidert mein Grinsen, ihre Augen sprühen. „Erzähl mir ruhig mehr von Psychologie und dieser besonderen Zeit, wenn du magst, Leserin.“
„Nun, es ist noch nicht lange her, dass Frauen weniger Rechte hatten als Männer“, erkläre ich.
Esmanté stutzt. „Wie meinen?“ Sie kneift die Augen zusammen und legt unwillkürlich eine schlanke Hand auf den Griff ihres Schwertes – Akrya, eine ganz besondere Waffe!
„In Büchern wurden diese Veränderungen, also dieser gesellschaftliche Wandel thematisiert“, füge ich milde hinzu.
„Du meinst, dass Schreiber darüber Geschichten verfasst haben?“ Sie blickt ernst und ich bin überrascht. Wie konnte ich sie nur unterschätzen? „Ja“, antworte ich sanft, „genau.“
„Das ist eine sehr kluge Art, etwas zu erklären.“ Ihre Augen schimmern wie tiefe Seen im Sonnenlicht. Natürlich hat Loglard sich in sie verliebt. Natürlich sind alle möglichen Kerle hinter ihr her. „Meine Schreiberin hat sich auch so etwas gedacht“, fügt sie sinnend hinzu.
Ich bin entzückt über die anklingende literarisch‑philosophische Wendung: Esmanté und ich im literarischen Salon. Ich stelle mir vor, wie die Gastgeberin, Judith M. Brivulet, also die Schreiberin, eintritt und uns huldvoll zunickt.
Da springt Esmanté auf, zieht Akrya, macht einen Ausfallschritt und zielt mit der Schwertspitze auf mich. Vor Schreck kriege ich Schluckauf. „Eines sage ich dir, lass mich wie ich bin!“ Sie stellt Akrya vor sich, beide Hände auf dem Schwertknauf.
Zwei Haarsträhnen wehen genau wie ihr Mantel. Wie ist das möglich? Im Zimmer geht kein Wind. Hinter Esmanté verschwimmt das Sofa, dann das Regal, schließlich die Wand. Eine weite Graslandschaft entfaltet sich, in zarten Tönen, die allmählich kräftiger werden. Tiranorg! Sie wird mich bald verlassen, in ihre Welt zurückkehren.
„Ich bin zwar adlig, aber keine kokette Hofdame. Ich stehe ein für meine Prinzipien und schütze die meinen, aber ich fluche und saufe gelegentlich“, ruft sie mir zu, jetzt schon aus weiter Ferne. Sie hebt eine Hand zum Gruß. „Gib mir dein Wort, Leserin: Lass mich, wie ich bin!“
Ich springe auf, winke ihr zu. „Natürlich, du hast mein Ehrenwort.“ Sie lächelt, bevor ein farbiger Wirbel sie verschluckt. Das Fenster in meiner Wirklichkeit schließt sich. Esmanté ist fort. Ich fühle mich fantastisch, gleichzeitig bin ich erschöpft. Aber ich weiß genau, was ich zu tun habe …
Judith M. Brivulet: Tiranorg – Schwertliebe. Band 1 des Fantasy-Epos.
Judith M. Brivulet: Tiranorg – Schwertmagie. Band 2 des Fantasy-Epos.
Cover: Juliane Schneeweiss
Lektorat: Carolin Olivares
Fotos © Judith M. Brivulet, Carolin Olivares
Text des Artikels © Carolin Olivares