Lektorat Carolin Olivares

Lektorat Fantasy

Tolkiens Erben und Andere – ein Genre boomt

Literaturwissenschaftler sprechen von der Phantastischen Erzählung als einer Untergattung der Epik. Eingebürgert hat sich bei Lesern und Textarbeitern die Bezeichnung Fantasy. Bei welchem Namen auch immer man das Kind nennt, Fantasy erfreut sich zunehmender Beliebtheit.

Was mitunter auf zahlreichen Seiten im Netz zu Verwirrung führt, ist die Vielzahl der Kategorien und Unterkategorien. Mitunter werden Entwicklungen der Buch- und Literaturgeschichte wie auch Begriffe, die zu den jeweiligen theoretischen Systemen gehören, vermischt. Das ist allerdings nicht allzu tragisch, denn der leidenschaftliche Fantasy‑Leser ist womöglich nicht in allererster Linie an literarischer Gattungsgeschichte interessiert und findet in den angebotenen Systematiken die Orientierung, die er sucht.

Wer aber doch verstehen möchte, welche literarischen Strömungen und Entwicklungen, die ja immer auch gesellschaftliche Verhältnisse spiegeln oder auf diese reagieren, zu dem führten, was wir heute als Fantasy bezeichnen, muss einen Blick zurückwerfen. Auf einige wenige Meilensteine möchte ich eingehen.

Die Lust am Schauerlichen

Literatur- und Kulturwissenschaftler stellten die These auf, dass der im 19. Jahrhundert viel gelesene Schauerroman eine Reaktion auf die Entzauberung der Welt im Zuge von Wissenschaftsgläubigkeit und Industrialisierung darstellte. Die Idee einer Entzauberung könnte auch mit dem aktuellen Boom der Fantasy-Literatur zu tun haben.

Zurück zum Schauerroman. Im 18. Jahrhundert feierten die Nachfahren der Aufklärer den Sieg der Vernunft. Das Welt- und Menschenbild wandelte sich, die modernen Wissenschaften etablierten sich in den Universitäten. Die Philosophie der Aufklärung führte das Abendland auf der einen Seite in das industrielle Zeitalter, auf der anderen bereitete sie die Basis für eine politische Entwicklung hin zu Menschenrechten und Demokratie. Volksglaube, alte Bräuche und Überlieferungen sollten verbannt werden aus dieser vernünftigen Welt. Bei den Menschen aber blieb die Sehnsucht nach Zauber und Magie, nach dem Übersinnlichen und den Schaudern, die das Böse verursacht. Schauerromane, in denen eine reale und eine fantastische Welt, bevölkert von Geistern, Teufeln und Schatten, ineinander übergingen, befriedigten zumindest einen Teil dieses Sehnens.

Das Schauerliche blieb im Verlauf des 19. Jahrhunderts der Wegweiser dieser Buchgruppe. Chamissos Erzählung von Peter Schlemihl, dem Mann, der seinen Schatten verkaufte, erfreute sich großer Beliebtheit wie auch die Werke von E. T. A. Hoffmann und Edgar Alan Poe. Mary Shelleys Frankenstein und Bram Stokers Dracula gehören in diesen Strang.

Den komplexeren Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts mit immer mehr gesellschaftlichen Teilbereichen, unterschiedlichen politischen Ideen und höchst verschiedenen Strömungen in der Kunst genügte das rein Schauerliche nicht mehr. Die fantastische Literatur des vergangenen Jahrhunderts spaltete sich auf. Neben einer ausgesprochenen Horrorliteratur entwickelten sich neue Genres wie Science‑Fiction und Fantasy.

So wie heute bauten die Fantasy-Autoren ihre Welten aus Elementen der Märchen und Sagen. Besonders ergiebig waren und sind keltische wie auch germanische Mythologie (vgl. Duden, 137–138).

So weit, so gut. Eine weitere, sehr bekannte Gattung stand ebenfalls Pate.

Von Märchen und märchenhaften Erzählungen zur Phantastischen Erzählung

Forscher interpretieren mitunter bereits Höhlenzeichnungen als Märchen der Steinzeitmenschen. Sicher ist, dass Märchen in den unterschiedlichen Kulturkreisen seit sehr langer Zeit eine bedeutende Rolle spielen. Diese Art „phantastisch-wunderbarer Erzählungen, besonders für Kinder, bei der Naturgesetze wie historisch-soziale Determinanten aufgehoben sind und irreale Gestalten und Wunder bestimmende Elemente der Handlung werden können …“ (Bastian in Doderer, 422) hat es in sich.

Neben Volks- und Kunstmärchen, die weiterhin gelesen wurden, entwickelte sich im 19. Jahrhundert allmählich eine Form der Erzählung, die trotz vieler Ähnlichkeiten mit dem Märchen auch deutliche Unterschiede aufwies. Einige Literaturwissenschaftler gaben dieser sich im vorvergangenen Jahrhundert neuformierenden Gattung viel später den Namen Wirklichkeitsmärchen. Gemeinhin gilt E. T. A. Hoffmanns Nussknacker und Mausekönig als das erste Wirklichkeitsmärchen (Ewers in Wild, 119).

Im Märchen sind reale und fantastische Welt nicht getrennt, sondern bilden ein Ganzes, das nicht in Frage gestellt wird. Im Nussknacker beginnt die Geschichte in der realen Welt des gehobenen Bürgertums des 19. Jahrhunderts und zwar zur Weihnachtszeit. Parallel existiert eine wunderbare, märchenhafte Welt, von der nur wenige wissen. Beide Sphären sind miteinander verquickt. Die Handlungen in der einen können sich auf Verhältnisse in der anderen auswirken. Am Ende kommt allerdings noch eine weitere Lesart in Betracht. Womöglich bildet sich die Hauptfigur, die junge Marie Stahlbaum, in ihren Fieberträumen alles nur ein …

Der Charakter dieser neuen Art von Erzählung unterscheidet sich von dem des Märchens. Die Geschichten werden aus der Zeitlosigkeit des unbestimmten „es war einmal“ in die Gegenwart geholt. Die Figuren erhalten Namen und ein psychologisches Profil.

Frühe Vertreter sind Alice im Wunderland, die Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson und Peter Pan. Zu der Zeit, als diese Werke erstmals in Deutsch veröffentlicht wurden, in der Kaiserzeit um die vorletzte Jahrhundertwende, waren sie zunächst nicht Gegenstand einer literatur- oder kulturwissenschaftlichen Analyse. Sie galten als Märchen oder märchenhafte Erzählungen.

Erst in den Fünfzigerjahren wurde der Gattungsbegriff der Phantastischen Erzählung eingeführt, zunächst für den Bereich der Kinder- und Jugendbücher. Es gab einen wesentlichen Grund dafür, dass diese Erzählungen in den wissenschaftlichen Fokus rückten. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden viele Kinderbücher mit fantastischen Inhalten neu verlegt und in einem moderneren Gewand präsentiert. Außerdem erschienen Werke aus dem skandinavischen und angelsächsischen Bereich zum ersten Mal auf dem deutschen Buchmarkt. Gerade letztere unterschieden sich noch deutlicher vom Märchen wie beispielsweise Pippi Langstrumpf, Mary Poppins und Pinocchio.

Die drei Varianten der Phantastischen Erzählung, die in den folgenden beiden Jahrzehnten von Literaturwissenschaftlern herausgearbeitet wurden, liegen im Prinzip auch aktuellen Fantasy‑Systematiken zugrunde. Es ist wie immer: Das Rad kann und muss nicht ein zweites Mal erfunden werden.

Die klassische Dreiteilung

In einer ersten Variante der Fantasy spielt die gesamte Geschichte in einer anderen Welt. Die Völker, die diese bewohnen, haben eigene Kulturen, gesellschaftliche Regelungen, Geschichten und Religionen. Häufig wird ein Kosmos erschaffen, der Elemente des Mittelalters mit Elementen der keltischen und germanischen Kultur vereint. Einen reichen Fundus bieten Sagen und Mythologien. Immanenter Bestandteil dieses Universums ist die Magie. Oft begibt sich ein Held, häufig zusammen mit Gefährten, auf eine Reise, um das Böse zu besiegen. Neben der Bewegung im Äußeren findet auch eine im Inneren statt, denn im Verlauf des Abenteuers entwickelt sich der Held, wächst über sich hinaus, um am Ende als ein Anderer zurückzukehren (Müller in Doderer, 38-39).

Je feiner ausgearbeitet der Weltenbau, umso überzeugender die Geschichte. Paradebeispiel ist natürlich Tolkiens Herr der Ringe. Der Leser wird nach Mittelerde entführt, in eine Welt, die bereits seit mehreren Äonen existiert und an der Schwelle zum Zeitalter der Menschen steht. All die unterschiedlichen Völker verfügen über eine je eigene Kultur, Sprache und Geschichte. Der ewige Kampf zwischen Gut und Böse ist in ein komplexes, aufeinander abgestimmtes Handlungsgefüge gewoben, das in einer fernen Vergangenheit seinen Anfang genommen hat.

Werke dieser Art neigen sozusagen von Natur aus dazu, opulent und großartig daherzukommen. Der Leser erwartet eine ausgefeilte Welt mit einigen Raffinessen und Überraschungen. Eine derart umfassende Geschichte wie der Herr der Ringe  wird sicher nicht verlangt, aber viele Fantasy‑Leser haben ihn als Maßstab im Kopf. Epen, die sich durch eine gewisse Fülle, besonderen Tiefgang und ausgeprägte psychologische Profile der Haupt- und wichtigen Nebenfiguren auszeichnen, werden auch als Epische Fantasy oder High-Fantasy bezeichnet. Wenden wir uns einmal von den Klassikern ab und schauen auf brandneue Veröffentlichungen. Die Tiranorg-Trilogie von Judith M. Brivulet ist ein gelungenes Beispiel dieser Kategorie. Die beiden ersten Bände, Tiranorg – Schwertliebe und Tiranorg -Schwertmagie, sind bereits erschienen.

In der zweiten Variante existieren eine reale und eine fantastische Welt nebeneinander. Auch Werke dieser Variante, die nicht zur Gänze in der wunderbaren Gegenwelt spielen, werden mittlerweile häufig als High‑Fantasy bezeichnet, wenn sie entsprechend komplex, umfangreich und tiefgründig sind.

Mitunter gibt es auch mehrere Parallelwelten wie in Philip Pulmans Trilogie His Dark Materials. Verbunden sind diese Welten durch besondere Übergänge. Helmut Müller nennt sie „Umsteigepunkte“ (Müller in Doderer, 38). Schon Alice gelangte durch einen Kaninchenbau in eine wundersame Gegenwelt. Ein Schlüsselwerk dieser Variante stellen die Bände der Narnia‑Chroniken dar. Der bekannteste Umsteigepunkt ist sicher der Wandschrank, aber da gibt es noch eine fast immer verschlossene Tür in einer Steinmauer, ein Gemälde mit einem Schiff, einen Bahnsteig, von dem es sich leicht abheben lässt …

Einige Umsteigepunkte sind aufregender als andere. In Mias Abenteuer – Chaos im Märchenland von Margareta Schenk geraten Mia und Paul über die Stufen einer Schlosstreppe, auf der ein Regenbogen schimmert, ins Märchenland. Nicht schlecht!

In einer dritten Variante spielt sich das gesamte Geschehen in einer realen Welt ab. Allerdings gibt es fantastische Figuren oder Requisiten, die eigenen magischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Das Fantastische kann auch in einer an sich realen Person liegen, die durch besondere Fähigkeiten und ihre außergewöhnliche Lebensweise auffällt wie – natürlich – Pippi Langstrumpf (Müller in Doderer, 38). Aber auch Hauke Rabauke von Ines Gölß, ein kleiner Räuber, der allein im Wald lebt und gerade die Zauberei erlernt, ist magisch in diesem Sinne.

Moderne Subgenres*

Mittlerweile hat sich in der Fantasy-Community eine Systematik durchgesetzt, die Fantasy neben Horror und Science‑Fiction als ein Genre der Phantastik ansieht. Unterhalb dieser Ebene existieren Subgenre wie High‑Fantasy, Low‑Fantasy, Dark Fantasy, Urban Fantasy, Science-Fantasy und viele andere.

Eine solche Einteilung erfüllt wie bereits gesagt ihren Zweck und bringt eine gewisse Ordnung. Allerdings empfinde ich die Unterscheidung in High‑ und Low‑Fantasy als etwas Grundlegendes außerhalb der Genre‑Subgenre‑Systematik. Im Allgemeinen wird der epischen High-Fantasy eine Low-Fantasy gegenübergestellt, um prinzipielle Unterschiede in Bezug auf Inhalt, Sprache und Zielpublikum zu verdeutlichen. Während die High‑Fantasy sich entweder an Tolkien orientiert oder sein Repertoire erweitert oder etwas ähnlich Umfassendes anstrebt, hat die Low-Fantasy ihre Wurzeln in den Pulp‑Magazinen der Dreißiger- bis Vierzigerjahre.

Neben Detektiv- Horror- und Abenteuergeschichten sowie Science‑Fiction wurden in diesen Heften auch fantastische Erzählungen in Episoden veröffentlicht. Abgelöst wurden die Pulps von den Comics. Low‑Fantasy dreht sich um Helden wie Conan, der Barbar; Spiderman und andere. Plot und Erzählweise sind grundlegend verschieden von denen der High‑Fantasy, was nicht zuletzt mit der ursprünglichen Publikationsform in Episodenheften zusammenhängt.

Zurück zu den Genres und Subgenres. Die Grenzen zwischen Science-Fiction, Horror und Fantasy sind fließend. Die vermischten Werke werden in entsprechenden Subgenres der Fantasy zusammengefasst. In der Science‑Fantasy begegnen uns fremde Welten, Raumschiffe und Gesellschaften einer fernen Zukunft. In der Dark Fantasy treffen wir auf Horrorszenarien und Gruseliges.

Ein interessantes Subgenre bildet die Urban Fantasy. So gut wie immer gehört sie zu der dritten Fantasy-Variante. In einem realen städtischen Kontext ist die Wirklichkeit sozusagen durch fantastische Elemente gebrochen wie in Angela Planerts Drachenseele. Dieser Bruch kann so weitreichend und tiefgehend sein, dass die echte Realität kaum mehr erkannt wird oder deutlich in den Hintergrund tritt wie bei Harry Potter.

Gerade die Urban Fantasy erlebt zurzeit einen heftigen Boom. Ein Grund dafür könnte sein, dass sie besonders gut geeignet ist, unserer Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten.

Literatur

Bastian, Ulrike: Stichwort Märchen. In: Doderer, Klaus: Lexikon der Kinder– und Jugendliteratur, Band 2, S. 422-426. Weinheim, Basel: Beltz‑Verlag, 1977.

Ewers, Hans-Heino: Romantik, Märchendichtungen und Märchennovellen. In: Wild (Hrsg.): Geschichte der deutschen Kinder-und Jugendliteratur, S. 117-121. Weimar: Metzler, 2008.

Müller, Helmut: Stichwort Phantastische Erzählung. In: Doderer, Klaus: Lexikon der Kinder– und Jugendliteratur, Band 4, S. 37-40. Weinheim, Basel: Beltz‑Verlag, 1977.

Schülerduden Literatur. Hrsg. v. Redaktion Schule und Lernen. Stichwort: Fantastische Literatur, S. 137-139. Mannheim, Zürich: Duden‑Verlag, 2012.

*Für das Kapitel Moderne Subgenres habe ich bei Wikipedia zu den Stichworten: Fantasy, High‑Fantasy, Low‑Fantasy und Pulp‑Magazine nachgelesen, um meinen Wissensstand zu ergänzen.