Lektorat Carolin Olivares

Lektorat Fantasy

Thema, Prämisse, ein Spiel mit X und Y …

Wieder nehme ich mein Lieblings-Nachschlagewerk aus der Handbibliothek: Kreativ schreiben von Fritz Gesing. Sinnvoll strukturiert ist es, gut geschrieben, anspruchsvoll und trotzdem zu lesen ohne Fachlexika.

Das Cover spricht für mich die sprichwörtlichen Bände. Zwischen den bewegten Seiten eines aufgeschlagenen Buches fliegen Buchstaben empor. Und ich assoziiere: Durcheinander, Chaos, Buchstabensalat … falsche Worte … Füllwörter … Sätze, die „nicht stimmen“ … Figuren, die nicht überzeugen … Erzählperspektiven, die durcheinandergehen … logisch-inhaltliche Brüche … sprachliche Brüche … Ach, das Herz der Lektorin schlägt höher.

Ob Roman, Kurzgeschichte, Fantasy, Science-Fiction, Kinderbuch oder was auch immer – die Geschichte muss überzeugen, sozusagen im Kern in sich selbst ruhen. Meine Gedanken schlagen Purzelbäume, ich frohlocke: durchdachte Plots, überzeugende Charaktere, eine geschickte Dramaturgie, ebenso korrekte wie fließende Formulierungen … Ach ja!

In Erwartung dessen, was nun unweigerlich kommen wird, lausche ich in mich hinein. Schon geht es los: Die Bewohnerinnen meines inneren Hauses melden sich zu Wort.

„Ordnung schaffen“, erklärt die Vernünftige, „ ist das A und O.“

„Let it flow“, flötet die Kreative.

Das innere Kind malt unterdessen mit einem Zweig einen großen Kreis in den Sand. Mich unverwandt anblickend zeichnet es weiter, immer kleinere Kreise in den großen hinein. Triumphierend steckt es den Zweig in die Mitte, in den Kern, in das Zentrum.

Unruhe packt mich. Da formuliert sich – irgendwie, von irgendwoher  – eine Frage. Was hält die Geschichte, das literarische Gefüge, im Innersten zusammen?

Die Lieblingsfrage

Schon bin ich bei meiner Lieblingsfrage. Solche Fragen haben wir doch alle. Was mich immer heftig umtreibt bei der Arbeit an einem Manuskript, ist die Frage danach, worum es eigentlich geht?

Bei meinen eigenen Romantexten formuliere ich deutlich schärfer. „Was soll das Ganze?“, schleudere ich meinen Charakteren, allen voran der männlichen und weiblichen Hauptfigur voller Leidenschaft und etwas verzweifelt entgegen. Regelmäßig lachen meine Antagonisten hämisch.

Diese, meine Lieblingsfrage führt mich zur akribischen Suche nach dem Grundbaustein, dem Atom, der Essenz einer Geschichte. Ein aufregender Gedanke kristallisiert sich heraus.

Was geschieht, wenn ich meine Story auf einer DIN-A4-Seite zusammenfasse und dann – immer weiter komprimiere, bis zu dem Punkt, an dem das, was da auf dem Papier steht, sozusagen ihren Kern gerade noch wiedergibt. Ein oder zwei Sätze bilden den Keim, aus dem alles entspringt, das Genom meines Romans. Wenn ich davon noch etwas wegnehme, ist es aus mit meiner Story. Dann ist das Genom beschädigt oder besser gesagt – meine Geschichte kann sich daraus nicht mehr entwickeln, höchstens eine andere.

Das Kind in mir nickt freundlich und sieht vielsagend auf die Kreise im Sand.

„Meine Güte!“, stöhnt die Vernünftige. „Was soll der Quatsch?“

Ja, ich muss zugeben, das weiß ich jetzt auch nicht mehr.

„Mach weiter!“, haucht die Kreative.

Fröhlich lachend jongliert das Kind mit drei Bällen.

Was mache ich in Anbetracht der unterschiedlichen Stimmen meines inneren Dialoges? Zunächst einmal stöbere ich weiter in meinem Lieblings-Nachschlagewerk.

Thema und Prämisse

Auf Seite 116 entnehme ich Gesings Ausführungen, dass neben anderen Begriffen und Konzepten das „Thema“ auf den Bereich abzielt, mit dem ich mich gerade herumschlage. Das Thema ist ebenso Ausgangspunkt wie Leitfaden einer Geschichte und weist auf die „grundlegende Wahrheit“ eines Werkes hin. Durch die richtigen Fragen kann es klarer herausgearbeitet, präzisiert werden.

„Aha!“ Die Vernünftige – immerhin hat sie Kultur- und Bibliothekswissenschaften studiert, sich außerdem mit deutscher Sprach- und Literaturwissenschaft beschäftigt – möchte etwas Kluges anmerken. „Das literarische Thema wird hier als mehrdimensionales Konzept aufgefasst. Will heißen: Es hat mehrere Facetten, zeigt sich in mehreren Aspekten und Wirkweisen.“

„Klugscheißer“, murmelt die Kreative und bläst die Backen auf.

Grinsend zuckt das Kind die Schultern.

Mir gefällt, was ich über das Thema lese und ich beschließe, mich weiter damit zu beschäftigen. Noch bin ich die Chefin meines inneren Hauses.

Gesing schreibt nun über die Vorliebe der amerikanischen Autoren des kreativen Schreibens für die „Prämisse“. Da macht sich wieder Unruhe in mir breit. Die Prämisse stellt den zentralen Charakter, insbesondere seine Wesenszüge, in den Vordergrund. Aus eben diesen entwickelt sich der Konflikt und später eine Lösung oder wenigstens eine Auflösung.

Aha! Peter Pan will nicht erwachsen werden, fliegt im Alter von sieben Tagen in den Stadtpark zu den Elfen und später wird er der Boss der „Verlorenen Jungen“ auf der Insel Nimmerland. Sein Freier-Kind-Ich-Zustand ist zwar ganz toll, aber er vermisst doch etwas. Also holt er sich Wendy als Mutter und notgedrungen ihre Brüder herbei, kämpft mit Piraten und Indianern, bleibt am Ende immer Kind.

Na ja, denke ich mir. Wo kriege ich all die anderen Erzählstränge und Nebenthemen unter? Wie kann ich denn auf diese Weise nach dem Schema „wenn, dann …“ die „grundlegende Wahrheit“ deutlich, knapp und präzise herausarbeiten? Geht es bei Peter Pan doch um das Kind im Menschen, nicht nur im Manne, das nicht erwachsen werden will und an sich auch immer bleibt, zumindest tief im Inneren verborgen.

Das Kind hört auf, Steinchen in seinen Sandkreisen zu verteilen und guckt mich mit großen Augen an. „Tief verborgen?“, fragt es.„Na ja …“

Seufzend lese ich weiter. Oh weh! Ein Schauer läuft mir über den Rücken.

Die Sache mit den Formeln

Mein Held verweist darauf, dass es in Hollywood eine Formel für Geschichten gibt.

„Moment!“, erklärt die Vernünftige kategorisch. „In Hollywood werden Filme gemacht. Dafür sind Film- und Theaterwissenschaften zuständig, nicht die Literaturwissenschaft.“

„Seh‘ ich nicht ganz so“, hält die Kreative leicht genervt dagegen. „Auch die Handlung eines literarischen Textes, z. B. eines Romans, braucht eine Dramaturgie. Natürlich gibt es da Verbindungen.“

Ich, die Chefin, höre nicht weiter hin, denn beim Weiterlesen kommt es jetzt arg und ich will mich erregen. Gesing verweist auf eine Formel, die da lautet: X führt zu Y. Eben diese soll den inneren Fahrplan eines Drehbuches, aber auch eines anderen literarischen Werkes wiedergeben.

Meine Nackenhaare sträuben sich. Formeln in Sozial-, Kultur- oder Literaturwissenschaft? Nicht mit mir! Bitte keine Formeln für lebendige Gefüge oder Texte, die darauf abzielen, lebendige Gefüge wiederzugeben. Schaudernd erinnere ich mich an heftige Diskussionen unter Ethnologen. Was ist Kultur? Die Gesamtheit der materiellen wie immateriellen Innovationen einer Gruppe. Eine Struktur. Ein System mit Untersystemen. Ein Gebilde mit Teilbereichen, die auf das Funktionieren des Ganzen ausgerichtet sind. Ein lebendiges Gefüge, das sich von Generation zu Generation wandelt, Althergebrachtes bewahrt, aber auch verändert, Neues adaptiert. Das Letzte gefällt mir am besten, doch alle diese Konzepte haben etwas für sich. Was aber gar nicht geht, ist: a + b + x = Kultur.

Die Vernünftige hebt die Hand. „Das ist ein unzulässiger Diskurs. Bleib gefälligst beim Thema.“

Darauf reagiere ich beleidigt. Auch ich habe ein Recht auf meine Sichtweise und persönlichen Filter, durch die ich mir die Dinge des Lebens betrachte. Das wäre ja noch schöner.

„Beruhige dich“, beschwichtigt die Kreative.

Da horche ich auf, denn die müsste doch fuchsteufelswild werden, wenn so ein ganzheitliches, komplexes lebendiges Gefüge wie eine Kultur oder so ein ganzheitliches, komplexes, am Lebendigen orientiertes Gefüge wie ein Roman in ein paar Relationen gepackt wird.

„Also, Physiker und Mathematiker interessieren sich doch auch für Dinge, die in der Welt passieren, zum Beispiel dafür, dass ein Apfel nach unten fällt und nicht nach oben wegfliegt. Wenn sie dazu eine Formel gefunden haben, bedeutet das ja nicht, dass die Erscheinung in der Wirklichkeit nicht mehr existiert. Die ist immer noch vorhanden, aber es gibt einen Ansatz für ein Verständnis des Geschehens.“ Die Kreative schüttelt sich. Das ist eigentlich nicht ihr Metier. Sie mag nicht mehr und trällert eine Melodie.

Erstaunt bin ich jetzt aber doch. Da ist ja was dran.

Der Gesichtsausdruck der Vernünftigen verklärt sich. „Ach ja!“, stimmt sie zu. „Ein Verständnis für den zugrundeliegenden Mechanismus, für den inneren Bauplan – darum geht es.“

Das Kind hüpft vom äußersten Kreis in den nächsten, immer so weiter, bis es im Zentrum steht, neben dem Zweig.

Mir wird etwas klar und ich bin erleichtert. Das große Ganze bleibt, auch wenn „sein Innerstes“ in einer grundlegenden Aussage verdichtet ist. Also gut: X führt zu  Y.

Experimente

Jetzt ist mir danach, auszuprobieren. Aber zuerst erlaube ich mir, dieses Instrument zur Herangehensweise an das Schreiben so zu justieren, dass es für mich passt. Denn „X führt zu Y“, diese Formel aus dem kreativen Schreiben, ist ja nichts anderes als ein Instrument. Für meine Experimente  gestatte ich mir die Grundaussagen nach der Formel „Charakter mit Wesenszügen – Konflikt – Lösung bzw. Auflösung“ etwas aufzubauschen, also mehr hineinzupacken.

Los geht´s! Wenn es für eine Person unglaublich wichtig ist, einen Sinn, genauer gesagt, eine Aufgabe im Leben zu finden und ihren Horizont ständig zu erweitern, dann gestalten sich die Selbstfindungsprozesse wahrscheinlich sehr schwierig und am Ende kann die Liebe zu kurz kommen. In meinem Roman Calling USA geht es auch darum. Natürlich ist da noch viel mehr …

Als Nächstes versuche ich es mit einer Geschichte, von deren Stimmigkeit ich sowieso schon überzeugt bin. Wenn ein junger Mensch zu sich selbst steht, nicht aufgibt und sich nicht dem Gruppendruck fügt, dann wird er oft einsam sein und leiden, hat aber die Möglichkeit, sich auf seine ganz eigene Art und Weise zu entfalten. Oder: Wenn ein Mensch mutig und zäh ist, dann kann er sich zu einer autonomen Persönlichkeit entwickeln. Das spielt eine Rolle in Die kleine Krähe Kristina von Babett Jacobs.

Jetzt probiere ich das mit dem aktuellen Romanmanuskript auf meinem Lektorats-Tisch, eines, das mich ganz schön fordert. Wenn du als Kanzlerkandidat den amtierenden Regierungschef herausforderst, eigen und direkt bist, dann kannst du das Establishment gegen dich aufbringen, was dazu führt, dass du am Ende … Verrate ich nicht, denn Ira Ebners neuer Roman Das deutsche Spiel ist ja noch nicht veröffentlicht.

Welches Buch wähle ich nun? Die Titel auf den Buchrücken in der Regalreihe mit meinen Lieblingsbüchern leuchten mir auffordernd entgegen. „Nimm mich!“, sagt Anna Mc Partlins Rabbit in Die letzten Tage der Rabbit Hayes. „Du bist morgen dran“, verspreche ich.

Fritz Katzenbuckel in Rainer Bauers Das Haus an den Gleisen verrenkt sich auf seinem Stuhl und steckt den Kopf unter den Tisch. „Lass mich nur in Ruh‘“, brummt er. „Friss lieber Blutwurst.“

Ha! Fritz, du bist reif. Ich gehöre einer Generation an, die Blutwurst sogar mit dick Butter unten drunter essen kann. Also mein lieber Fritz! Wenn ein gefühlvolles, eher unscheinbares und unsicheres Kind gestresst ist durch die Reibungen in einem Mehrgenerationenhaushalt, außerdem seine Kindheit und Jugend in der spannungsreichen, widersprüchlichen Nachkriegszeit durchlebt, dann wird wahrscheinlich sein restliches Leben die Fortsetzung der zu leistenden Konfliktarbeit. Dieses Kind wird sich zu einem mindestens „etwas schrägen Typen“ entwickeln.

„Weiber“, murmelt Fritz und grinst verlegen.

Jetzt ist mir danach, das Experiment zu beenden. Mein Blick streift ein altes Kinderbuch: Die Reise im Schaukelstuhl von Gunnel Linde. Dieses Buch habe ich mir ungefähr zehnmal im Bücherbus ausgeliehen, als ich in die vierte Klasse ging. Vor einigen Jahren, als ich begann, die Kinderbücher zu sammeln, die mir abhandengekommen waren oder die ich seinerzeit nur ausgeliehen, aber nie besessen hatte, fand ich es in einem Online-Antiquariat.

Die Heldin der Geschichte Allein Daheim sitzt mit ihren beiden Teddys im Schaukelstuhlschiff und winkt mir vom Cover zu. „Hallo, hallo“, ruft das innere Kind und hüpft vor Aufregung. Ich lächle dem Kind und dem Mädchen im Schaukelstuhl zu, erinnere mich daran, wozu Allein Daheim mich seinerzeit inspiriert hat. Das Herz geht mir auf.

Kinder mit ihrer unerschöpflichen Fantasie erleben sogar dann, wenn es an sich langweilig ist, die größten Abenteuer. Das lässt sich wunderbar weiter verdichten: Fantasie schafft neue Welten … So einfach kann das sein – manchmal!

Literatur

Gesing, Fritz (2015): Kreativ schreiben. Handwerk und Techniken des Erzählens. Köln: DuMont

Bauer, Rainer (2015): Das Haus an den Gleisen. Roman. Selbstverlag

Dreyser, Paula (2016): Calling USA. Roman. Herzogenrath: VA-Verlag

Ebner, Ira: Das deutsche Spiel. Roman

Jacobs, Babett (2015): Die kleine Krähe Kristina. Würselen: Jacobs Children´s Book

Linde, Gunnel (1965): Die Reise im Schaukelstuhl. Bielefeld: Erich Schmidt-Verlag

McPartlin, Anna (2015): Die letzten Tage der Rabbit Hayes. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch