Dem Weltenbau kommt in der Fantasy eine herausragende Bedeutung zu. Die Gestaltung einer fantastischen Gegenwelt ist eines der Merkmale, die das Genre ausmachen. Die Leser erwarten einen Kosmos jenseits unserer Realität, der allerdings in sich stimmig ist. Das grundlegende Gefüge muss überzeugen, gleichzeitig Raum für Kopfkino und Träume lassen.
Ein wichtiger Pfeiler in der Konstruktion der fantastischen Welt sind die Völker, die dieses Universum bewohnen. Zu den unbestrittenen Klassikern gehören neben Zwergen, Feen, Orks, Magiern und Trollen ganz gewiss die Elfen.
Elfen – Lichtgestalten, mit und ohne Makel
Sie schillern und sie betören, diese Elfen. Unser Bild von ihnen ist mittlerweile stark geprägt von Tolkiens Elben, von diesen schönen, langlebigen, magiebegabten, kunstsinnigen, aber auch wehrhaften Wesen.
Als Sprach- und Literaturwissenschaftler befasste sich Tolkien neben altenglischen Texten intensiv mit Sagen und Mythologie der Germanen und Kelten wie auch mit europäischen Märchen. In dem Kosmos, den er im Herrn der Ringe geschaffen hat, begegnen uns neben Stoffen und Themen daher auch Gestalten aus eben diesen Quellen. Tolkiens Elben haben nichts mit den Elfen à la Tinkerbell gemein, sind vielmehr inspiriert von götterähnlichen Wesen aus der germanischen Mythologie, die im keltischen Kontext als menschenähnliche Naturgeister daherkommen.
Literaturwissenschaftler warfen Tolkien mitunter Schwarz‑Weiß‑Malerei vor. Den guten Elfen und ihren Verbündeten stünden die bösen Orks mit ihren Kumpanen gegenüber. Doch auch im Herrn der Ringe klingt es an, wenn auch eher selten, dass diese wunderbaren Lichtgestalten mitunter nicht nur menschliche, sondern gar schlechte Eigenschaften aufweisen. Angesichts des Einen Rings, den Frodo ihr anbietet, kämpft die Elbenkönigin Galadriel, die Herrscherin über Lothlórien und der Inbegriff der makellosen Elfe, zwar nur kurz, aber heftig mit dem Verlangen nach Macht.
Ganz davon zu schweigen, dass die grauenvollen Orks dereinst aus Elben gezüchtet worden waren. Darüber ließe sich nun wahrlich trefflich philosophieren …
Bei aller Kritik hat Tolkien eine Art Archetypus des Elfen für die Fantasy-Literatur kreiert. Ob diese Gestalten Elben oder Elfen genannt werden, ist dabei nicht von Bedeutung.
In anderen Fantasy-Werken kommen die Elfen weniger glorifiziert daher. Obgleich ätherischer und tendenziell weiser wie auch besser als Menschen, verfügen auch sie durchaus über weniger erhabene Charaktereigenschaften, können gierig, boshaft und untreu sein wie die in Clanen organisierten Elfen in Tad Williams‘ Blumenkrieg.
Mitunter verschwimmt das Bild eines Wesens an der Schwelle zu einer feinstofflicheren Dimension völlig. Am Ende spiegelt es gar den Homo Sapiens mit all seinen Stärken und Schwächen. Wie auch immer die elfischen Figuren angelegt sind, häufig spielen sie eine herausragende Rolle. Diejenigen, die ambivalentere Charaktere vorweisen, werden von den Lesern durchaus geschätzt. Wir begleiten lieber einen Helden, der nicht nur äußere, sondern auch innere Kämpfe bestehen muss. Elfen dieser Art wirken authentischer. Und genau solche Elfen sind mir im Lande Tiranorg begegnet.
Die Elfenvölker im Ewigen Land und ein immerwährender Kampf
Schauplatz der Handlungen des vielschichtigen Fantasy‑Werkes von Judith M. Brivulet ist der Kontinent Tiranorg, dessen Geographie und Nationen dem Leser nicht nur während der Lektüre vermittelt, sondern auch auf einer Karte im Anhang des Buches präsentiert werden. Neben Zwergen, Orks, Feen und einigen anderen Spezies, die weniger bekannt sind wie beispielsweise Koadeck, wird Tiranorg von vier Elfenvölkern bewohnt, den Gras-, Wald-, Berg- und Meerelfen. Bei Letzteren könnte es sich allerdings auch um einen Mythos handeln …
Die Hauptfigur Esmanté d’Elestre ist eine Graselfe adliger Herkunft und berühmte Schwertmeisterin. Nachdem sie in einem Kampf gegen Orks schwer verletzt von ihren Gefährten getrennt wurde, nimmt sich Loglard, der Hohe Lord der Waldelfen ihrer an. Er heilt sie, wobei Esmantés Abneigung gegen Magie ein Problem darstellt. Schließlich verlieben sie sich, was beide in große Gefahr bringt.
Die Graselfen
Cérnowia, die Heimat der Graselfen, besteht zum größten Teil aus weiten Ebenen; im Süden breitet sich eine schwer zugängliche Sumpflandschaft aus. Abgeleitet von dem Namen des Landes werden die Graselfen des Nordens auch als Cérn bezeichnet. Im Westen bilden der Perlende Fluss und das Smaragdmeer die Grenze, im Norden und Osten das Steinerne Meer.
An der Spitze der streng hierarchisch gegliederten Gesellschaft der Cérn steht der König, umgeben von adligen Familien, dicht gefolgt vom Militär. Für den Umgang miteinander gelten strenge Regeln; gesellschaftlicher Aufstieg ist kaum möglich. Absolut verpönt ist die Ausübung von Magie.
Eine Ausnahme von der starren Ordnung bildet der Umgang mit Religion. Wie alle Elfen Tiranorgs verehren die Graselfen die Große Mutter und die Große Banshee. Einige andere Götter spielen eine Rolle, aber die Schutzgöttin der Cérn ist, wenig verwunderlich, die Kriegsgöttin Scathach. Die Verehrung anderer Götter wird jedoch geduldet, solange Scathach im Vordergrund steht.
Gleichzeitig beginnt es in ganz Tiranorg zu gären. Der vor Jahrhunderten besiegte und verbannte Geheimbund der Arsuri, skrupellose Schlangenbeschwörer und Schwarzmagier, erstarkt und rekrutiert alte Verbündete. Die Meerelfen treten auf den Plan, weil ihnen in ihrer Stadt in den Tiefen des Meeres der Untergang droht.
Gegen alle Widerstände werden Esmanté und Loglard ein Paar. Mehr und mehr beginnt Esmanté zu verstehen, dass Ereignisse und Frevel der Vergangenheit ihren Tribut fordern. Eine Schlüsselrolle spielt ein magisches Artefakt, die geheimnisvolle Scheibe der Ewigkeit. Lange sträubt sich Esmanté gegen Loglards Versuche, ihr klarzumachen, dass gerade sie mit dieser Scheibe auf geheimnisvolle Weise verbunden ist.
Der Kampf zwischen Gut und Böse, transportiert in einem ebenso vielschichtigen wie spannenden Handlungsgeflecht, findet auf mehreren Ebenen statt, nicht nur zwischen Gegnern, den Arsuri und den Guten, sondern auch in den Figuren selbst.
Im Verlauf der Lektüre wird die anfängliche Ahnung des Lesers zur Gewissheit. Ein Ereignis in ferner Vergangenheit besiegelte einst die Trennung der Elfen. Trotz Gemeinsamkeiten unterscheiden sich die vier Völker mittlerweile in Religion, politischer Organisation, Werten, Normen und Alltagskultur.
Als Angehörige einer alten Adelsfamilie und verdiente Schwertmeisterin ist Esmanté eine Cérn par excellence. Aber gerade bei den geachteten Kriegern, Männern und Frauen, treten Verhaltensweisen zutage, die nicht dem gesellschaftlichen Bild eines anständigen Cérn und eines strengen Soldaten entsprechen. Natürlich sind Esmanté und ihre Gefährten ebenso tapfer wie mutig. Kampfgefährten und Freunde werden niemals im Stich gelassen, Schwächere werden beschützt unter Einsatz des eigenen Lebens. Das ist, was der Leser von einem stolzen Elfenkrieger erwartet.
Was Esmanté und ihre Gruppe aber so liebenswert und irgendwie menschlich macht – sie möge mir diese Adjektive verzeihen – ist die Art und Weise, wie Freundschaft und Gemeinschaft gelebt werden. Mit derben Sprüchen und Zoten sowie einem trockenen Humor bewältigen die Cérn‑Krieger ihre schwierigen und gefährlichen Aufgaben, immer bereit, auch mal gegen die strengen gesellschaftlichen Regeln zu verstoßen. Werfen wir einen Blick in Esmantés Zimmer, wo sie sich von ihren Verletzungen erholen soll. Besuch von ihren Freunden ist eigentlich streng verboten.
Mein Blick fiel auf die Humpen. »Ist da wirklich Bier drin?«
»Aye. Wir dachten, ein guter Schluck bringt dich wieder auf die Beine.« Londo rutschte vom Bett, griff nach dem Henkel und half mir zu trinken. Er hatte recht. Kühl und herb rann der Gerstensaft meine Kehle hinunter und wärmte den Bauch.
»Die beiden Orks habe ich gut zugerichtet, findest du nicht?«, begann ich. Téfor nickte, natürlich hatte er die Kadaver gefunden.(…)In diesem Augenblick flog die Tür auf.
»Was bei allen Göttern soll das?« Zornsprühend baute sich Ilyria im Raum auf. »Habt ihr alle den Verstand verloren? Die Meisterin braucht Ruhe.«
Londo reichte den Humpen an Malina weiter, die hinter ihm stand. Diese versteckte ihn hinter ihrem Rücken, für Ilyrias scharfe Augen nicht schnell genug.
»Sagt, dass das nicht wahr ist!« Mit zwei raschen Schritten war sie bei Londo, schob ihn beiseite und zog Malinas Arm hervor, mit dem Bier.
»Ihr habt tatsächlich dieses Gesöff reingeschmuggelt? Ah, so etwas ist mir noch nie passiert! Ich werde mit Meister Montard sprechen. Das wird Konsequenzen haben. Hoffentlich habt Ihr nichts davon getrunken, Lady Esmanté?«
»Nein, natürlich nicht.« Ich versuchte, Kels treuherzigen Augenaufschlag nachzuahmen. (Tiranorg – Schwertliebe)
In den Sümpfen des Südens leben die Sumpfelfen, kleiner und dunkler als die übrigen elfischen Bewohner Cérnowias.Sie zählen zwar zu den Graselfen, sind aber keine Cérn, gelten als primitive Underdogs.
Zwar gehörten die Südlichen Provinzen streng genommen zu Cérnowia und unterlagen der Herrschaft des Königs. Doch dort galten von alters her andere Gesetze. Die Cérn in den übrigen Landesteilen verachteten die schmalen, dunkelhäutigen Elfen, die ihr Leben in schlichten Dörfern inmitten der Sümpfe verbrachten. Kein Cérn konnte sich solch ein Leben vorstellen. Deshalb blickte man naserümpfend auf die Südländer herab. Im Gegenzug hielten die Sumpfelfen nicht sehr viel von den aufgeblasenen Nordländern, die in ihren Augen verweichlicht waren und sich von dem natürlichen Leben entfernt hatten. (Tiranorg – Schwertliebe)
Der Süden ist ebenso unbeliebt wie seine Bewohner. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum die Arsuri, die gefährlichen Schwarzmagier, in eine Stadt in den Sümpfen verbannt wurden, weit weg von den besseren im Sinne von wertvolleren Elfen. Aber genau dort in den Sümpfen des Südens erwachen die Schlangenanbeter zu neuer Stärke …
Die Waldelfen
Esmantés Gefährte Loglard ist der Hohe Lord von Gwyneddion, der Heimat der Waldelfen, also ein König. Im Gegensatz zu den Graselfen halten die Gwydd nicht viel von Titeln und Rängen. Ihre Gesellschaft ist deutlich freier, offener und vertikaler. Der Hohe Rat ist ein Gremium der Mitbestimmung und ein Forum für Diskussionen. Der König selbst hält Kontakt zu seinem Volk. Was die Waldelfen außerdem zutiefst von den Graselfen unterscheidet, ist ihre innige Beziehung zur Magie, die sie nutzen, um zu heilen und positive Kräfte in der Natur zu stärken.
Auch die Waldelfen verehren die Große Mutter und die Große Banshee sowie andere Götter. Zu Scathach haben sie keine Beziehung, was nicht weiter überrascht. Besondere Verehrung bringen sie Mabon, dem Gott der Heiler, und Easar, dem Gott der Magie, entgegen. Grundsätzlich sind die Waldelfen tolerant, was religiöse Praktiken betrifft.
Der größte Teil Gwyneddions wird von Wald bedeckt, dem Flüsternden Wald, ein Hinweis darauf, dass die Gwydd mit der Natur in inniger Verbindung stehen, mit ihr kommunizieren.
Bezeichnenderweise nennen die Graselfen den kleinen Wald, der zum Gebiet von Cérnowia gehört, Bannwald, womit ihre Abneigung gegenüber Wäldern deutlich wird. Dieses Waldstück liegt am Perlenden Fluss und ist ein Ausläufer des großen Waldgebietes auf der anderen Seite in Gwyneddion.
Sogar mit den Dryaden, geheimnisvollen und mächtigen Baumwesen, begabt mit besonderer Magie, stehen die Waldelfen in Kontakt. Fünf Dryaden – die Gwydd nennen sie respektvoll die Schwestern – errichteten einst Men Dûr, den Palast aus Bäumen, für die Waldelfen. Esmantés Reaktion auf diese Bewohner Gwyneddions spricht Bände:
„Wie bitte? Du willst mir weismachen, dass es bei euch Dryaden gibt!“ (Tiranorg – Schwertliebe)
Schließlich erzählt Loglard seiner staunenden Geliebten von den Schwestern:
„Nun, vor langer Zeit bat der erste Hohe Lord von Gwyneddion eine Dryade um Hilfe. Er wollte einen einzigartigen Versammlungsort, einen Ort, der die Eigenart der Waldelfen angemessen repräsentiert. Wer könnte eine solche Stätte besser erschaffen als eine Dryade, ein Baumwesen? Die Dryade holte ihre vier Schwestern und sie wählten fünf Eichen. Natürlich Eichen, nicht wahr? Die heiligsten Bäume, die es im Wald gibt.“ (Tiranorg – Schwertliebe)
Die Bergelfen
Im Norden wird Gwyneddion von einem Gebirge begrenzt, den Trollspitzen. Dort liegt das Reich der Bergelfen. Obwohl sie dem König des Landes unterstehen, also einem Waldelfen, genießen sie weitgehende Autonomie, sind aber in die Wirtschaft Gwyneddions eingebunden. Neben anderen Göttern verehren sie vor allem Cerunnos und Ceridwen. Sie gelten als zurückhaltend und gelegentlich etwas sonderbar. Bei weniger gebildeten Waldelfen, im einfachen Volk, sind Witze über die Rückständigkeit und das Bäurische der Bergelfen verbreitet. Allerdings ist das nicht böse gemeint. Die Bergelfen ihrerseits machen sich auch über die Waldelfen lustig.
Loglard schmunzelte. Er kannte die Witze, die bei den Bergelfen umgingen. Die meisten handelten davon, dass die Flachländer, wie sie die übrigen Elfenvölker nannten, den Weg nicht schafften, auch wenn nur wenig Schnee lag. (Tiranorg -Schwertliebe).
Ihre Kultur ist getragen von einem Lebensstil, der sich noch stärker an der Natur orientiert. Auch sie betreiben Magie und spüren sich anbahnende Veränderungen. Es kommt durchaus vor, dass sich Loglard mit den Herrschern der Bergelfen, Lady Anruín und Lord Léon, berät.
Die Meerelfen
Noch während die Gras-, Wald- und Bergelfen wie die meisten anderen Spezies Tiranorgs die Meerelfen, die Morinji, für einen Mythos oder ein untergegangenes Volk halten, erfährt der Leser, dass sie existieren. Und zwar mitten im Meer in einer geradezu utopisch anmutenden Stadt, die durch einen Jadebogen vor den Wassermassen geschützt wird, in Nisz.
Im Schein der künstlichen Sonne glitzerten und funkelten die Gebäude, die zumeist aus Glas gebaut waren, in den verschiedensten Farben. Ihnen verdankte die Stadt den Beinamen: die Strahlende. Viele Stockwerke hoch schmiegten sich die Bauten links und rechts an die türkis leuchtenden Grabenwände. Durchsichtige, in Pastelltönen schimmernde Brücken verbanden sie. (Tiranorg – Schwertmagie)
Aufgrund ihrer außergewöhnlichen Lebensumstände verfügen die Meerelfen über besondere Technologien, die zusammen mit einer ausgefeilten Magie ihr Überleben sichern.
Ein Hauch von Science-Fantasy umgibt die Stadt Nisz und ihre Bewohner. Werfen wir einen Blick dorthin, wo Technologie und Magie aufeinandertreffen.
Nur sehr wenigen Morinji war es vergönnt, das Himmelsgeviert zu betreten. Dabei war es im Grunde genommen nur ein Park. Es gab zwei kleine Unterkünfte für die Magier, die ihren Dienst versahen. Sie konnten übernachten und sich verköstigen.
Wirklich wichtig war nur ein Bauwerk: die Sonnenbrücke in der Mitte des Karrees. Hoch ragte sie (…) auf, ein kompakter Turm ohne sichtbaren Eingang, ohne Fenster oder Schießscharten. Auf etwa dreiviertel der Höhe führte ein Wehrgang um den Turm, bestückt mit Zinnen, zwischen denen eisblaues Licht waberte. (Tiranorg – Schwertmagie).
Auch die Gesellschaft der Morinji wirkt hierarchisch, mitunter gar gespalten. Die verschiedenen Stadtteile werden von Elfen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten bewohnt. Einflussreiche Adlige leben beispielsweise im Korallenviertel. Zwischen Adligen und Nichtadligen, reicheren und ärmeren Morinji schwelen Konflikte. Ausgeprägte Spannungen bestehen auch zwischen Krieger- und Zaubererkaste.
Auffällig ist die Bedeutung der Königin für das Wohlergehen und Überleben der Stadt. Früh erfährt der Leser, dass die Königinnen der Morinji in besonderer Weise mit dem Hause d’Elestre verbunden sind.
Im Verlauf des ersten Bandes betreten Gruppen der Morinji das Festland und nehmen ihren Platz ein im Spiel um die Macht in Tiranorg.
Warum überzeugen Tiranorgs Elfen?
Natürlich ist das Gesamtpaket entscheidend, das Zusammenspiel von Geschichte, Plot, Figuren, Setting … Ein schwaches Element wirkt sich negativ auf das Ganze aus, ein stimmiges Gefüge andererseits ist besser als die Summe seiner Teile. Die Völker sind nur so gut wie die Figuren, denn auch das fiktive Volk besteht aus Charakteren.
Die Frage ist also, wie die Autorin ihre Elfen angelegt hat, insbesondere die Haupt- und wichtigen Nebenfiguren. Keine ist oberflächlich, alle verfügen über ein psychologisches Profil, keine ist nur gut oder nur böse. Judith Brivulets Elfen kommen daher wie echte Wesen, zuweilen sympathisch menschlich, aber nie zu glatt, sind dabei doch so anders, dass sie etwas Besonderes darstellen. Gleichzeitig entsprechen sie dem Archetyp des Elfen und erfüllen damit eine grundlegende Erwartung des leidenschaftlichen, üblicherweise sehr kundigen, Fantasy‑Lesers. Der Spagat zwischen dem literarischen Bild und der lebendigen Figur ist geschafft.
Soweit das Grundsätzliche. Bei der, sagen wir mal, kulturwissenschaftlichen Betrachtung der Völker Tiranorgs macht das Herz der Ethnologin einen Sprung. Auf der Grundlage gründlicher Recherchen, gepaart mit dem Gespür für die Dinge des Lebens und der Beobachtungsgabe des Schreibers hat die Autorin elfische Kulturen erschaffen, die bis hinein in das Alltagshandeln und die täglichen Routinen durchdacht sind. Wäre Tiranorg eine wissenschaftliche Dokumentation würde man von der Froschperspektive sprechen.
Bleibt noch das Unerklärliche, die Magie, die sich zwischen Leser und Figuren einer Geschichte entwickelt – oder auch nicht. Einen Teil des Geheimnisses eines magischen Leseerlebnisses kann ich lüften. Wichtig ist, dass der Leser eintauchen kann und zwar mit Haut und Haaren. Das gelingt dann besonders gut, wenn eine aufregende, in sich stimmige Welt geöffnet wird, in der starke, kantige Charaktere vor dem Hintergrund ihrer Kultur und Gemeinschaft, ihren steinigen Weg gehen und den Leser dabei mitnehmen. Die Protagonisten scheitern, rappeln sich wieder auf, bestehen am Ende einige der äußeren und inneren Kämpfe … und verändern sich … so wie wir alle.
Judith M. Brivulet: Trianorg – Schwertliebe / Tiranorg – Schwertmagie. Covergestaltung: Juliane Schneeweiss. Lektorat: Carolin Olivares.