Der gelungene Auftakt zu einem Fantasy-Epos
Ein weiteres Fantasy-Epos? Warum nicht. Solange der Plot stimmt, die Figuren überzeugen und eine fantastische Anderswelt die Leser in ihren Bann zieht, spricht nun wirklich nichts dagegen. Maßstäbe für das Genre hat bekanntlich Tolkiens Herr der Ringe gesetzt. Nach wie vor bedienen sich Fantasy‑Autoren aus der Schatztruhe mit nordischen Sagen, fremden Kulturen, Mittelalter, Kelten und Mythen aller Art.
Trotzdem wird es nicht langweilig. Immer wieder tauchen Geschichten auf, die bekannte Zutaten in einer Art und Weise mischen, dass etwas Neues entsteht. Einige davon bestechen wiederum mehr als andere, was natürlich nicht zuletzt mit dem Geschmack des Lesers zusammenhängt. Besondere Komplexität, geschicktes Verweben von Ebenen und Handlungssträngen, virtuoses Vermitteln von Stimmungen – diese Dinge können den Leser beeindrucken. All das ist Jürgen Flüchter mit Elbanor – das Erwachen gelungen. Zugegeben, als Lektorin bin ich nicht nur voreingenommen, sondern habe bereits vehement Partei ergriffen. Nachdem ich mich geoutet habe, lässt sich gerade aus dieser Position heraus trefflich und ungeniert darüber nachdenken, worin die Faszination gerade dieses Werkes liegt.
Worum es geht
Erste Hinweise gibt wie immer der Klappentext:
Der vierzehnjährige Will lebt 1964 in einem Ort am Rand des Odenwaldes. Er hält sich für einen Versager, einen Niemand. Eines Tages folgen ihm die Schläger aus seiner Klasse zu seinem Lieblingsplatz, einem Felsen im Wald. Ein merkwürdiger junger Mann kommt ihm zu Hilfe. Der Felsen entpuppt sich als Tor ins Königreich Elbanor, eine mittelalterliche Parallelwelt, der Fremde als der Königssohn Elberlin. Er führt Will durch das Portal. Der Junge erfährt, dass ausgerechnet er und seine Schwester Ulrike auserwählt sind. Zusammen mit den beiden Söhnen des Königs sollen sie das Schwert der Macht nach Elbanor bringen.
Die vier jungen Menschen werden von den grausamen Kargaren gejagt und geraten in das Visier eines ehemaligen SS‑Offiziers. Als ein Drache sie schließlich bedroht, erkennen Will und Ulrike, dass Elbanor auf geheimnisvolle Weise nicht nur mit den Nibelungen aus der Sage, sondern auch mit Ereignissen aus dem Dritten Reich verbunden ist. Sie müssen einsehen, dass ihnen in dem bevorstehenden Kampf eine Schlüsselrolle zukommt.
Hier wird schon klar, dass die Geschichte, die uns Jürgen Flüchter erzählen wird, nicht nur in zwei Welten spielt, der unseren und der fantastischen Parallelwelt Elbanor, sondern auch in unterschiedlichen Zeiten im Sinne von Epochen angesiedelt ist. Was in den Sechzigerjahren rund um das geheimnisvolle Schwert der Macht geschieht, hat seine Wurzeln im frühen Mittelalter und Kreise gezogen bis ins Dritte Reich.
Was der Klappentext noch nicht preisgibt, ist die Meta‑Ebene, auf der Odin und Isis das, was geschieht – in unserer Welt und in Elbanor – betrachten, um ihre Fäden zu ziehen … So weist das Werk viele Facetten auf und es fällt schwer, den Roman in nur eine Schublade zu stecken. Fantasy steht wohl im Vordergrund. Aber welche Spielart derselben mag es sein?
Von High Fantasy zur Social Fantasy
Wer als grundlegendes Element der High‑Fantasy die Ansiedlung des gesamten Geschehens in einer fantastischen Welt ansieht, wird Elbanor nicht zu dieser Kategorie zählen. Andere Elemente wie der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, die Quest des Helden sowie eine ausgefeilte Anderswelt mit Völkern, Geschichten, Sprachen und Religionen finden sich in Elbanor. Insgesamt handelt es sich um ein Werk, das in Bezug auf Sprache, Inhalt und Zielpublikum so umfassend und tiefgründig ist wie der Leser es von High‑Fantasy erwartet. Low‑Fantasy scheidet definitiv aus. Weder der Protagonist noch weitere Haupt- und Nebenfiguren erinnern an Conan oder Gestalten, die in einem Comic vorkommen könnten.
Um noch einmal aus einer anderen Richtung zu argumentieren: Das Geschehen spielt sich nicht ausschließlich in einer fantastischen Anderswelt ab. Die reale Welt ist durch einen Umsteigepunkt (Müller in Doderer 1979, 38) mit einer Parallelwelt verbunden. Wenn man von der Komplexität und der Ausgestaltung der fantastischen Welt ausgeht, dann muss man Elbanor aber genau wie die Narnia‑Chroniken unbedingt zur High‑Fantasy zählen.
Trotzdem muten die Erlebnisse von Will und seinen Gefährten nicht so an wie die Geschichte der Kinder, die aus dem London des neunzehnten und der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts durch verschiedene Portale in Aslans Reich gelangen. Die Stimmung, die in Elbanor erzeugt wird, ist eine andere. In den Narnia‑Chroniken spielt die Musik von dem Moment des Durchschreitens der Umsteigepunkte bis zur Rückkehr ausschließlich in der fantastischen Welt. In Elbanor – das Erwachen finden wichtige Ereignisse in beiden Welten statt. Den Leser erwartet ein reges Hin und Her.
Wir haben es mit einem Setting zu tun, in dem innerhalb der realen Welt „phantastische Figuren, Begebenheiten oder Requisiten“ auftauchen, die „außerhalb der für die reale Welt geltenden Gesetzmäßigkeiten stehen“ (Müller in Doderer, 38). Nicht nur die elbanoranischen Königskinder betreten unsere Welt durch das Portal, sondern auch gefährliche Gefolgsleute des Antagonisten. Vor allem aber ist das Schwert der Macht, um das sich alles dreht, dadurch, dass eine Gruppe der Burgunder es einst nach Elbanor brachte, zutiefst fantastisch aufgeladen. Zu Beginn des Abenteuers befindet es sich zwar noch im heimatkundlichen Schulmuseum, aber dort wird es nicht bleiben …
Damit nicht genug. Auch ein Hauch von Social‑Fantasy weht herüber. Der Autor misst Beziehungen und Verhaltensweisen, dem Umgang mit Macht und der Einstellung zu Gewalt große Bedeutung bei. Es mag ein wenig zu wissenschaftlich klingen, wenn ich behaupte, dass gesellschaftspolitische Themen nach Elbanor transportiert wurden, aber der Spiegel, der uns vorgehalten wird, ist nicht zu übersehen.
Mittlerweile wird die Diskussion um die Fantasy‑Facetten des Werkes sehr kleinteilig, vielleicht gar etwas spitzfindig. Zum Glück ist es ja gar nicht notwendig, ein Werk eindeutig zuzuordnen. Allerdings bietet Elbanor weit mehr als vielschichtige, tiefgründige Fantasy. Ins Auge springt der Blick in die jüngere und ferne Geschichte.
Der historische Teil: Geschichte und Zeitgeschichtete
Ein historischer Roman, definiert als „ein umfang- und figurenreiches Erzählwerk, in dem geschichtliche Ereignisse im Vordergrund stehen oder die Handlung vor einem historischen Hintergrund spielt“ (Schüler‑Duden‑Literatur 2014, 200), stellt besondere Anforderungen an die Recherche. Die Leser müssen in das Leben einer früheren Epoche eintauchen können, ihre Bedingungen und Besonderheiten verstehen. Das, was in Romanen mitunter als Welthaltigkeit bezeichnet wird, setzt gründliche Kenntnisse, Einfallsreichtum und auch ein wenig Mut voraus.
Das Schwert der Macht taucht erstmals in der fernen Vergangenheit des frühen Mittelalters auf. Figuren und Elemente der Nibelungensage werden in einem historischen Setting inszeniert. Wir erhaschen nicht nur einen Blick in den Alltag am Hof eines Fürsten, sondern erfahren auch fast nebenbei etwas über den Umbruch im Bereich religiöser Vorstellungen. In den Gedanken der Protagonisten, mehr noch zwischen den Zeilen, offenbart sich eine Zeit, in der die alten germanischen Götter noch nicht vollends vom christlichen Glauben verdrängt waren.
Sozusagen knallharte Geschichte erwartet uns in den Passagen, die im Dritten Reich spielen. Auf die Diskussion darüber, welche Epochen in der Literatur schon als historisch und welche noch als erlebte Zeitgeschichte gelten, möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen, erscheinen mir diese Abgrenzungsversuche doch allesamt etwas willkürlich. Für mich ist das Dritte Reich Teil der jüngeren Geschichte.
Gerade hier wird deutlich, wie intensiv sich der Autor nicht nur mit historischen Ereignissen befasst hat, sondern auch mit Ideologien und Verhaltensweisen. Diese aufwändige Recherche und Analyse hat ihn in die Lage versetzt, unverschnörkelt auf das Wesentliche zu kommen. Gerade die nüchterne, unaufdringliche Gestaltung der Szenen in einem Konzentrationslager lassen den Leser einigermaßen betroffen zurück. Geschickt nutzt der Autor dabei die Möglichkeiten des Fantasy-Genre. Isis hält die Zeit an, um einem Häftling die Flucht aus Auschwitz zu ermöglichen.
Sie führte ihn durch das Konzentrationslager, das sich in einen riesigen Skulpturenpark verwandelt hatte, zum Ausgang. Menschen und Tiere verharrten in einer Bewegung. Wärter, die patrouillierten; Hunde, die in der Leine hingen und Häftlinge anbellten, die einen Karren mit Toten zogen …
Die Hauptgeschichte schließlich spielt in der Welt der Sechzigerjahre. Junge Menschen schwärmen für die Beatles, die soziale Kontrolle der Dorfgemeinschaft funktioniert noch, nur wenige verheiratete Frauen gehen arbeiten.
Zwei Welten, drei Epochen … das würde schon genügen, um eine komplexe Struktur zu bauen. Aber es gibt eine weitere Dimension im Plot‑Gefüge – die Ebenen.
Alltägliches Leben und die Götter
Über der Alltagsebene von Menschen in unterschiedlichen Zeiten und Welten spannt sich eine Meta-Ebene. Diese wird von nur zwei Gestalten bevölkert, keinen Geringeren als Odin und Isis. Interessant ist diese Paarung schon deshalb, weil der germanische Göttervater, der Hausherr Walhallas, mit einer ägyptischen Göttin interagiert. Am bekanntesten wurde Isis als Gattin des Totengottes Osiris, allerdings galt sie auch als Göttin der Geburt, Wiedergeburt und Magie. Also – wenn das keine Assoziationen weckt! Des Weiteren erfahren wir, dass diese so unterschiedlichen Götter in inniger Beziehung zueinander stehen und außerdem nach ihrem Gutdünken die Strippen ziehen. In einem ihrer philosophisch angehauchten Gespräche wird gar eine weitere Ebene angesprochen, wenn auch nur kurz. Odin stellt die Frage nach der Existenz eines ultimativen, kaum fassbaren Schöpfergottes, der über allen und allem stünde …
Unterschiedliche Welten, Zeiten und Ebenen versprechen ein vielschichtiges Abenteuer. In scheinbarem Kontrast zu dieser Opulenz und der Aufgabe, die da wohl lauert, steht der Held, ein schüchterner Vierzehnjähriger, der von sich selbst keine hohe Meinung hat. Wenden wir uns also ab von Genrediskussion, Plot und Struktur, hin zum Protagonisten. Mit ihm erleben wir die größte Überraschung.
Die Magie des Nowhere Man
Antihelden, die im Verlauf äußerer Prüfungen und innerer Kämpfe eine Metamorphose zum wahren Helden durchlaufen, sind ein bewährtes Thema der Fantasy. Man denke nur an Frodo, den Halbling. Auch der vierzehnjährige Will, ein introvertierter, kontaktarmer Gymnasiast, der sich am liebsten mit einem Buch zurückzieht, hat zunächst nichts Heldenhaftes an sich. Was ihn allerdings von nicht wenigen Fantasy-Helden unterschiedet, ist die Tatsache, dass seine Art, zu denken und zu fühlen wie auch seine Weltsicht, vermittelt wird. Erzähltheoretisch ausgedrückt, wenn auch etwas flapsig: Der Autor hat seinem Protagonisten wie auch allen wichtigen Figuren ein psychologisches Profil verpasst.
Natürlich wächst Will an seiner Aufgabe, entdeckt sich selbst neu, was in einer fantastischen Gegenwelt mit fantastischen Herausforderungen einfacher ist, und entwickelt sich – unter Schmerzen. Die Art, wie seine Reaktionen auf äußere Ereignisse und seine inneren Kämpfe geschildert werden, zeugt davon, dass sich der Autor mit der Psychologie junger Menschen beschäftigt hat. Dies ist für einen Lehrer im Ruhestand allerdings nicht allzu überraschend. Dabei wird es nie zu sachlich oder gar nervig. Und genau aus diesem Grund ist Elbanor auch ein Entwicklungsroman.
Am Anfang der Geschichte begegnet uns ein Jugendlicher, dessen Selbstbewusstsein gegen Null tendiert. Will sieht sich als Nowhere Man und nimmt ausdrücklich Bezug auf das Lied der Beatles, worüber sich besonders ältere Leser freuen dürften. Der Nowhere Man wird für Will zum Symbol seiner Persönlichkeit und zum Programm für sein Leben. Er fällt aus den sprichwörtlichen Wolken, als sich nach und nach offenbart, dass er alles andere ist als ein Niemand.
Mit dem Nowhere Man der Beatles baut der Autor nicht nur äußerst geschickt eine Brücke in die Zeit der Sechzigerjahre. Im Verlauf der Geschichte wird der Nowhere Man mehr und mehr zu einem Pfeiler im Plot, auf den wir Leser uns verlassen können. Gleichzeitig regt er uns zur Interaktion mit dem Protagonisten an. Wir wissen ja, wie Will über sich denkt und möchten ihm zurufen: Nein, Mann, so bist du nicht! Sieh nur, was du leistest! Und im Hintergrund winken immerzu die Beatles.
Wir erleben mit unserem Helden und fühlen uns wohl in der Zeit. So weit, so gut! Und dann – stellt sich am Ende heraus, dass zumindest das mit dem Beatles-Titel nicht stimmt. Gerade war alles noch normal, da erfahren wir im nächsten Moment, dass Will den Titel eigentlich noch gar nicht kennen konnte! Erst nachdem er bereits mit seiner Schwester aus Elbanor zurückgekehrt ist und das erste Abenteuer bestanden hat, also im letzten Kapitel – erscheint die erste Langspielplatte mit dem Nowhere Man.
Das raubt uns den Atem. Wie kann das sein? Verfügte Will etwa von Anfang an über besondere Fähigkeiten? Ist er weit mysteriöser und geheimnisvoller als angenommen? Die Erkenntnis, dass unser Held sich mit dem Nowhere Man zu einem Zeitpunkt identifiziert hat und den Liedtext kannte, als der Song noch gar nicht veröffentlicht war, katapultiert uns in die Tiefen des Fantastischen und der Magie.
In der Spannungsdramaturgie wird eine solche Strategie als Suspense bezeichnet. Durch Informationsentzug, offene Fragen, Rätsel oder Geheimnisse schweben die Leser im Ungewissen, was zu einem Zustand neugieriger Ungewissheit führt (vgl. Gesing 2015, 323‑324). Diese durch und durch prekäre Situation verlangt nach Aufklärung. Deshalb sind wir zutiefst besorgt, denn Will lässt seine Leser wissen, dass er mit Elbanor ein für alle Mal abschließen möchte.
Wir atmen auf, als seine Schwester ihm erzählt, dass sie am vergangenen Abend eine große dunkle Gestalt im Garten beobachtet hat … Ganz am Ende verbündet sich Will noch auf eine sehr subtile Weise mit seinem Lesepublikum. Er verabschiedet sich vorläufig mit den folgenden Worten:
Seufzend klappte ich mein neues Buch auf und las die erste Zeile: In einer Höhle in der Erde, da lebte ein Hobbit.
Elbanor – das Erwachen von Jürgen Flüchter mit Illustrationen von Michael Remus Gölß ist im Kelebek-Verlag erschienen.
Cover: MysticArtDesign / Lektorat: Carolin Olivares / Banner: Beate Geng