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Eine Fracht für das Museion – Hypatias Traum, Teil 3

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Es war jetzt nicht nötig, all das, was in der Runde der Gelehrten im Verlauf vieler Wochen zu dem Thema besprochen worden war, zu wiederholen. Hypatia und Leonidas nickten einander zu. Das genügte.

„Welches Gefühl hattest du, als die Drachen über das Schiff hinwegflogen?“, fragte er schließlich.

Das überraschte sie. Worauf wollte er hinaus? Die Antwort war hingegen ganz einfach: „Ein gutes Gefühl.“

„Welche drei Worte würdest du wählen, um deine Empfindungen zu beschreiben?“

Ohne Nachzudenken antwortete Hypatia: „Weisheit, Erhabenheit, Zeitlosigkeit.“

Genau in diesem Moment schien die Luft im Raum zu knistern. Sie spürten beide, dass sie das Geheimnis lüften konnten.

Da wurde Hypatia etwas klar. „In diesem Traum fühle ich mich immer mehr zu Hause“, stieß sie hervor. „Ich glaube, dass ich das, was geschieht, mitgestalten kann.“

Die Bedeutung ihrer Worte hing schwer im Raum, die Luft verdichtete sich. Als die Stimme ihres Freundes die Stille zerschnitt, zuckte sie zusammen. „Dann kannst du mit dem Ibismann und den Drachen reden.“

An diesem Abend wälzte Hypatia sich unruhig auf ihrem Lager hin und her, während sie sich verschiedene Strategien überlegte, wie sie den Ibismann ansprechen und wenigstens einen der Drachen zur Rückkehr bewegen könnte.

Als ihr der Duft des Meeres in die Nase stieg, öffnete sie die Augen. Von dem Ibismann fehlte jede Spur und die Drachen hatten sich bereits so weit entfernt, dass sie schon fast wieder zu einer dunklen Wolke verschmolzen. Verzweiflung machte sich in ihr breit. Gerade wollte sie rufen und wild mit den Armen winken, da sah sie, dass sich ein Einzelner aus der Schar löste. Mit wenigen mächtigen Flügelschlägen flog er tiefer und kehrte zurück zum Schiff. Sie erkannte ihn sofort. Als der schlanke Kopf mit der vorgewölbten Schnauze und den langen spitzen Ohren vor ihr in der Luft schwebte, überkam sie eine seltsame Ruhe. Die Mähne zwischen den Ohren wehte sachte in einem sanften Wind, so wie Hypatias Gewand. Die goldenen Augen in dem hellbraunen Gesicht fixierten sie. Kurz streifte ihr Blick das Muster auf der Stirn des Drachen und auf seinem gesamten Körper. Da fiel ihr ein, woran die Fellzeichnung sie erinnerte.

Wir sind viele, wisperte seine Stimme in ihrem Kopf. Mich würden die Menschen wohl als Leopardendrachen bezeichnen. Mein Anliegen ist die Verbreitung von Wissen, das aus dem Zusammenspiel von Herz, Verstand und Geist entsteht. Ich weise neue Wege.

Wie ein warmer kraftvoller Strom fluteten die Worte ihren Körper und ihr Innerstes. Für einen wundervollen Augenblick verschmolz die Welt der ewigen Ideen mit der Welt der Dinge und der Lebenden. Ihr war so, als würden all ihre Sinne nach einer langen Zeit des Schlafes erwachen. Ein Blitz flammte vor ihrem inneren Auge auf, befreite ihr Denken und Fühlen.

Ich danke dir, flüsterte sie stumm. Sag mir, welche neuen Wege soll ich gehen?

Der Leopardendrache verzog die Schnauze. Es sah so aus, als würde er lächeln. Tu das, was dir dein Herz sagt. Was wünschst du dir, Hypatia von Alexandria – Philosophin, Mathematikerin, Verfechterin der Freiheit der Gedanken und der Wissenschaften?

Was genau will ich?, fragte sie sich. Der Drache würde sich nicht mit irgendeinem Gerede zufriedengeben. Er erwartete von ihr nicht weniger als die Wahrheit – ihre Wahrheit.

Da brach es in Gedanken aus ihr heraus: Ich will Wissen verbreiten. Ich will Meinungen gelten lassen. Ich will eine Bibliothek mit Wissensschätzen aus allen Teilen der Welt, die allen Menschen zugänglich sind.

In diesem kurzen Augenblick hatte sie sich nicht nur gegen die sozialen Unterschiede in Alexandria und im gesamten Rest ihrer Lebenswelt ausgesprochen, sondern auch gegen den Anspruch des römischen Reiches, das, basierend auf dem Vermächtnis der Griechen, für sich und seine Bürger eine Vormachtstellung in der Welt forderte. Ihr schwindelte. Der Leopardendrache nickte unmerklich.

Schweigend schritt Leonidas in der Abenddämmerung neben ihr. Seine Wut war verraucht, seine Enttäuschung jedoch konnte Hypatia geradezu körperlich spüren. An diesem Morgen hatte sie ihm endlich alles anvertraut. „Und du erzählst mir erst jetzt von diesem Drachen mit dem Fell eines Leoparden“, hatte er zutiefst empört ausgerufen. An das zornige Funkeln seiner dunklen Augen erinnerte sie sich gut.

Schon seit dem Nachmittag fühlte sie sich eigenartig. Auf der einen Seite war sie leicht benommen und so gelassen, dass sie vieles nicht mitkriegte, aus dem einfachen Grund, weil es sie nicht interessierte. Auf der anderen Seite nahm sie deutlich wahr, was alle um sie herum empfanden. Beinahe kam es ihr so vor, als hätte sie einen zusätzlichen Sinn entwickelt. Welch ein Tag! Und er war noch nicht zu Ende!

Als sie nun das Stadtviertel Rhakotis betraten, zog Hypatia unwillkürlich die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht. Hinter dem Serapeum führte Leonidas sie in eine schmale Gasse mit niedrigen Häusern. Ein fremder Geruch lag in der Luft. Katzen miauten. Schatten huschten an ihnen vorbei. Schon nach wenigen Schritten verlor sie die Orientierung, sodass sie den Weg alleine nicht zurückgefunden hätte. Was war nur los mit ihr?

Plötzlich griff Leonidas ihre Hand und zog Hypatia in ein Haus, in dem der merkwürdige Geruch besonders stark war. Sie folgten einem dunklen Gang bis zu einem Innenhof. Ein paar Gestalten, Menschen und Katzen, bewegten sich zwischen den Hütten und flachen Bauten, die den Hof umgaben. Willenlos ließ sie sich von Leonidas in eine der Hütten schieben. Wände und Boden waren mit bunten Tüchern bedeckt. Auf einem ebenso bunten Kissen saß eine Frau vor einem flachen Holztisch, auf dem mehrere Kerzen brannten.

„Da bist du ja, Leonidas“, sagte die Frau mit einer tiefen rauchigen Stimme. Als sie den Kopf hob und ihnen das Gesicht zuwandte, erkannte Hypatia sie. Die Ähnlichkeit der Frau mit Nofretete war doch nicht so groß wie Hypatia bei der ersten Begegnung angenommen hatte.

„Ich grüße dich, Bilkis“, erwiderte Leonidas mit leicht gesenktem Kopf.

Dann zog er Hypatia mit sich, trat näher und setzte sich auf ein Kissen. Dabei ließ er sie nicht los, sodass ihr nichts anderes übrigblieb, als sich ebenfalls zu setzen. Nur der Tisch trennte sie von Bilkis. Diesen Namen hatte sie doch schon gehört oder gelesen! Im Schein der Kerzen schimmerten die Augen der Ägypterin wie Gold. Sie hatte das Gefühl, als würde der Blick dieser Frau sie lähmen.

„Sei willkommen, Hypatia, Tochter des Theon“, sagte Bilkis schließlich und es klang unerwartet freundlich.

„Ich … ich grüße dich“, stammelte sie, „und ich danke dir, dass ich kommen durfte.“

„Leonidas hat mir schon alles erzählt. Wir haben wenig Zeit. Du musst wissen, dass dieser Ort nicht vielen bekannt ist. Diejenigen, die sich hier regelmäßig treffen, wollen im Verborgenen bleiben. Der Tee, den Leonidas dir am Nachmittag gereicht hat, enthält ein Kraut, das deine Fähigkeit, dich zu orientieren, behindert. Gleichzeitig sind deine Hellsinne geschärft. Die Wirkung wird schon in einigen Stunden vergehen. Bitte verzeih! Wie gesagt, wir müssen sehr vorsichtig sein.“ Bilkis schwieg, ließ sie aber nicht aus den Augen.

Ach, so ist das!, dachte sie nur. Jetzt habe ich Gewissheit. Es gibt diese geheime Gruppe.

„Weil Leonidas für dich bürgt und wir alle wissen, dass du für die Freiheit des Denkens und der Wissenschaften eintrittst, werde ich dir etwas erzählen. Am Ende darfst du mir Fragen stellen.“

Jetzt schienen die Augen der Ägypterin zu glühen. In diesem Moment sprang eine große Katze auf den Tisch, ließ sich kurz auf alle Viere nieder, bevor sie sich schnurrend auf den Rücken rollte. Gelassen und vollkommen ruhig musterte Hypatia das Tier. Es schien ihr geradezu folgerichtig, dass seine Fellzeichnung die eines Leoparden war.

Das Geheimnis wird am nächsten Samstag an dieser Stelle gelüftet.

Bildnachweise: Die Schriftrolle stammt von Vicki Hamilton auf Pixabay. Der Drache stammt aus dem Kartenset Drachenweisheit von Christine Arana Fader, erschienen im Schirner Verlag.