Heute flüstern die Olivenbäume mir zu. Endlich bin ich angekommen – am Meer, in der Algarve und gleichzeitig in mir. Ich lasse den Hain hinter mir und erreiche den Pfad, der, übersät mit Felsbrocken, in Kurven zu meiner Grotte führt. Über mir spannt sich ein azurblauer Himmel, am Horizont vermischt er sich mit dem dunkleren Meer. Mir kommen Tränen der Erleichterung, denn es hat eine Woche gedauert, bis ich mich in diese Stimmung einschwingen konnte. Meine Sinne sind geschärft, um mich herum ein Wispern und Rauschen. Die Farben meiner Umgebung wirbeln wie auf einem Bild von van Gogh. Ich bin offen für die Zwischentöne und all das, was sich hinter dem Sichtbaren verbirgt.
Der Weg wird steiler und steiniger, das Meer dröhnt in meinen Ohren. Auf der Zunge schmecke ich Salz, auf der Haut spüre ich Gischt. An der Stelle, wo sich der Pfad um einen großen Felsblock windet, halte ich die Luft an, vor Erwartung, obwohl ich den Anblick kenne. Etwa drei Meter unter mir malen Sonnenstrahlen und Schatten ein Muster in den mit Steinen übersäten Sandstreifen. Darüber wölbt sich ein bizarrer Bogen aus Felsen wie ein sehr schmales Dach, auf beiden Seiten getragen von urigen Pfeilern. Kurz darauf betrete ich diesen verwunschenen Ort. Zwischen den Schattenspielen an den Felswänden schreite ich zu meinem Thron. Begriffe wie Andacht und Demut erhalten eine ganz neue Bedeutung. Der flache Stein mit dem merkwürdigen Spiralmuster steht da wie ein natürlicher Hocker. Er lädt mich ein, ich danke und nehme Platz.
Wellen brechen sich, schaumgekröntes Wasser fließt zwischen den größeren Steinen und schwappt über die kleineren in meine Richtung, bis es sich wieder zurückzieht in den Schoß von Mutter Ozean. Nur wenn ich so drauf bin wie jetzt, denke und fühle ich in solchen Kategorien: der Schoß von Mutter Ozean! Wenige Meter vor mir leuchtet es Türkisgrün, dahinter changiert das Wasser zwischen Türkisblau und dunkleren Blautönen. Ich blicke nach oben, hänge die Nase in den Wind. Was wird geschehen?
Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Veränderung in dem Meeres‑Türkis wahr. Neugierig schaue ich dorthin. In einiger Entfernung springen zwei Delfine aus dem Ozean. Mein Herz hüpft vor Freude. Aber sie haben mit dem, was vor der Küste meines Thronsaales vor sich geht, nichts zu tun. Ein großer diffuser Schatten tanzt im Wasser. Es könnte ein kleiner Wal sein oder ein großer Fisch, aber der Schatten befindet sich nicht unter der Wasseroberfläche. Mir wird ein wenig schwindelig, als sich ein türkisfarbener Drache aus dem Himmel schält und elegant im nassen Sand landet. Der Blick seiner Augen, so groß wie meine Hand und von derselben Farbe wie sein Körper, hält mich gefangen. Er breitet die Flügel aus, schüttelt sich, feine Wassertropfen stieben nach allen Seiten. Wieder sieht er mich an, jetzt schreitet er auf mich zu. Je näher er kommt, umso mehr muss ich den Kopf heben, denn ich will den Blickkontakt nicht verlieren.
Als mein Besucher etwa drei Meter von mir entfernt stehenbleibt, habe ich den Kopf bereits in den Nacken gelegt. Er ist so hoch wie der alte Fliederstrauch im Garten unserer Nachbarn. Sein feines Gesicht mit der schlanken Schnauze schwebt über mir. Die Schuppen auf Wangen und Stirn glitzern an einigen Rändern silbrig. Erstaunt registriere ich die langen Wimpern über der grau‑grün‑türkis schimmernden Iris mit der senkrechten Pupille. In diesem Moment weiß ich: es ist ein weiblicher Drache.
„Mein Name ist Türkis – in deiner Sprache“, sagt sie. Ihre ruhige Stimme erinnert an den Klang von Harfen und übertönt mühelos das Rauschen um uns herum, obwohl es mir so vorkommt, als würde sie leise sprechen.
„Ich grüße dich“, erwidere ich. Dabei staune ich über meine Stimme, die gar nicht zittert, und über meine Ausdrucksweise. Etwas sagt mir, dass Türkis meinen Namen bereits kennt. Auch wird mir klar, dass mich zwar Ehrfurcht ergriffen hat angesichts dieses erhabenen wunderschönen Wesens, aber ich habe keine Angst. Da fällt mir etwas ein. „Warst du die ganze Zeit schon hier?“, frage ich schnell.
„Das kommt darauf an.“ Türkis verzieht die Lefzen. Ihre Augen scheinen zu sprühen – vor Vergnügen. Nicht zu fassen, die Drachendame lächelt.
Als sie nun den schlanken Hals senkt und ihr Gesicht vor meinem schwebt, wird mir doch mulmig. „Worauf?“, piepse ich.
„Auf Stimmungen, Bewusstseinszustände, Schwingungen. Auf was sonst?“
Etwas in mir klingt an, mein Sonnengeflecht vibriert leicht. Ich glaube, zu begreifen, möchte aber weiter darüber reden. Vielleicht kapiere ich es ja auch doch noch nicht so ganz.
„Wie hängt das zusammen – Stimmungen, Bewusstseinszustände und Schwingungen?“, frage ich betont langsam.
„Ach!“ Sie hebt ihr majestätisches Haupt und schüttelt es. „Ihr Menschen fragt und fragt. Ihr zweifelt und traut eurem inneren Wissen nicht. Es ist immer dasselbe.“
Mein Herz fängt an zu klopfen, genau darauf will ich hinaus. Das amüsierte Funkeln in ihren Augen sagt mir, dass sie das weiß und bereit ist, mein Spiel mitzuspielen. „Wie meinst du das?“
Wieder lächelt sie. „Du spürst oder nimmst wahr oder fühlst, dass du in einem bestimmten Zustand offen bist für andere Dimensionen, für Parallelwelten, eben für all das, was sich hinter dem Sichtbaren verbirgt.“
„Es kommt also auf den Bewusstseinszustand an?“, formuliere ich mit Bedacht.
„Natürlich. Was denn sonst?“ Jetzt schnaubt sie. Womöglich wird ihr mein Spiel gerade langweilig. Ich muss mich beeilen. „Alltagsbewusstsein, Traum, Tiefschlaf, Stress, Flow, Meditation“, fügt sie gedehnt hinzu. „Das sind doch unterschiedliche Zustände.“
Vor Ungeduld bahnt sich bei mir ein Schluckauf an, den ich gerade so unterdrücken kann. „Wir reden von Schwingungsbereichen. Nicht wahr?“, presse ich hervor.
Als sie jetzt die Flügel ausbreitet und den Kopf zurückwirft, wird mir flau im Magen. Mit einer sehr raschen Bewegung ihres schlanken Halses bringt sie ihr Gesicht vor meines. Gegen den entstehenden Luftstrom muss ich mich stemmen, meine Haare fliegen nach hinten.
„Klar“, erwidert sie recht kühl. „Wenn du in dem Bereich einer feineren Dimension schwingst, bist du – nun ja – mit dieser Ebene verbunden und kannst alles wahrnehmen, was dort wirkt. Das könnte dir ein Hirnforscher genauso gut erklären wie ein Physiker oder – sagen wir mal – ein spirituell Suchender, der regelmäßig meditiert und innere Reisen unternimmt.“
„Oh!“, staune ich.
„Allerdings verwenden sie unterschiedliche Begriffe und denken in unterschiedlichen Modellen“, schieb sie hinterher. Dann zieht sie den Kopf wieder zurück in die Höhe, schlägt mit den Flügeln und wirft einen, wie mir scheint, sehnsüchtigen Blick Richtung Meer. In diesem Moment springen die Delfine wieder aus den Fluten. Sie lächelt und flüstert: „Ich komme gleich, Freunde.“
Meine Zeit wird knapp. Eine Sache muss ich noch klären. „Wie komme ich in diesen Bewusstseinszustand, in dem ich offen bin für die Schwingungsbereiche hinter der physischen Welt?“ Dass meine Stimme etwas verzweifelt und schrill klingt, ist mir unangenehm, aber gerade nicht zu ändern. „Ich meine, wenn es mit dem Meditieren mal nicht klappt. Und den Flow kann man ja auch nicht erzwingen.
„Türöffner!“ Das sagt sie so, als wäre der Begriff selbsterklärend.
Habe ich mich verhört? „Redest du von Drogen?“, frage ich zweifelnd. Der Seufzer, den sie ausstößt, bringt mich erneut ins Wanken. Wieder schwebt ihr Gesicht direkt vor meinem, ihr intensiver Blick bannt mich.
„Fantasie“, haucht sie. Das Meeresrauschen scheint das Wort zu betonen und seinen Klang bis zum Horizont zu tragen.
„Wie bitte?“ Vor Ergriffenheit zittert meine Stimme.
„Fantasie ist eine Sprache, die deine Seele versteht. Damit dringst du sozusagen zu ihr durch. Und die Seele ist die Verbindung zur Quelle.“
„Seele!“, äffe ich nach.
„Ach, es ist gleichgültig, wie du es nennst. Der göttliche Funke in dir, dein höheres Selbst, das Atman.“ Ihre Stimme hat einen sanften Ton angenommen. Darüber bin ich froh, denn es reicht mir immer noch nicht.
„Die Seele ist also die Verbindung zur … Quelle“, wiederhole ich.
„Oder zum Brahman oder zum Göttlichen“, erwidert sie geduldig. „Genau genommen ist die Seele ein Bewusstseinszustand.“
Ich kapiere und das macht mich glücklich. „Ein Zustand, in dem ich mich in einem bestimmten Schwingungsbereich befinde“, führe ich aus.
„Frequenzbereich der Theta‑Wellen.“
Da stutze ich. Hat Türkis das wirklich gerade gesagt? „Das ist Physik.“ Mehr fällt mir dazu wirklich nicht ein.
„Natürlich. Theta‑Wellen werden gemessen bei Menschen in tiefer Meditation, in Phasen intensiver Kreativität, bei Intuition und außersinnlicher Wahrnehmung.“
„Ach!“ So gesehen ist Physik gar nicht mehr trocken, schießt es mir durch den Kopf
„Das ist nichts anderes als der Moment des Verbundenseins“, fährt sie fort. „Dein Yogalehrer würde sagen: Atman trifft Brahman.“
Mich erwischt so etwas wie ein leichter elektrischer Schlag, weder unangenehm noch beängstigend. Mir geht im wahrsten Sinne des Wortes ein Licht auf. Vielleicht haben sich die Jünger an Pfingsten, als der Heilige Geist über sie kam, so gefühlt. Puzzleteile fügen sich zusammen, die Dinge ergeben Sinn. Zack! Nichts ist mehr so wie vor dem elektrischen Schlag.
An die Worte meines Yogalehrers erinnere ich mich fast wortwörtlich: Im Hinduismus sowie in anderen östlichen Glaubenssystemen wird von einem göttlichen Funken in allen Wesen ausgegangen, dem Atman, das aus derselben Substanz besteht wie das allumfassende Bewusstsein, das Brahman, auch Weltenseele genannt. Nach vielen Leben kehrt das Atman zurück in das Brahman, von dem es von der Substanz her nie getrennt war.
Das ist es, frohlocke ich innerlich. Wir alle sind aus Sternenstaub! In diesem Augenblick weitet sich mein Herz, dehnt sich aus. Ich fühle mich frei und leicht. Zur gleichen Zeit höre ich Musik in dem Rauschen des Meeres und van Goghs Wirbel schlagen regelrecht Purzelbäume.
Und genau dann, wenn das Atman das Brahman trifft, wird aus einer Grotte an der Küste der Algarve ein magischer Ort, denke ich, um den Moment nicht durch die Sprache des alltäglichen Lebens zu zerstören.
So ist es, erwidert Türkis, genau dann können überall magische Orte entstehen, denn dann ist alles möglich.
Text: © Carolin Olivares, WegBegleiter
Bildrechte: Das Bild des türkisfarbenen Drachen stammt aus dem im Schirner‑Verlag erschienenen Kartenset Drachenweisheit der Autorin Christine Arana Fader mit Illustrationen der Künstlerin Anja Kostka. Freundlicherweise hat der Verlag das Bild zur Verfügung gestellt.