WegBegleiter

Die Frau in der Linde

Januar 2000

Ursula seufzt tief und zufrieden. Der Kalender zeigt den 10. Januar 2000 – Millennium: die propagierte Zeitenwende. Endlich bin ich auf meinem Weg, jubelt sie stumm. Bei diesem Gedanken kommen ihr die Tränen – Tränen der Erleichterung und des Glücks. Sie sinkt auf den bequemen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Das ist der Platz für ihre Patienten, Männer und Frauen, die sie als Heilpraktikerin konsultieren. Normalerweise sitzt sie auf der anderen Seite des Schreibtischs. Perspektivwechsel! Die Sichtweise der anderen nachvollziehen können. Ist nicht immer einfach.

Mit einem weiteren Seufzer blickt sie sich um in ihrem Sprechzimmer mit den apfelgrünen Tapeten. Sie mag Avalon. Vor ihrem feinen Tränenschleier verschwimmt die Umgebung allmählich – das Bild von Isis an der Wand; das Regal mit den Büchern; die Kommode mit der Marienstatue, dem Buddha und der Figur aus Lindenholz, für die sie keinen Namen hat. Die schlanke, aufrechtstehende Frau ist aus einem Stück Holz gearbeitet. Alles an ihr kann der Betrachter nur erahnen. Ein bodenlanges enges Gewand; am Körper anliegende Arme; ein Gesicht in der blank polierten Fläche, umrahmt von dunklerem Holz.

Ursula liebt diese Figur. Oft, wenn sie die Lindenfrau in Ruhe betrachtet, meint sie, einen intensiven Duft zu riechen und Glockengeläut zu hören. Vor ihrem inneren Auge formt sich dann eine Dorflinde, die ihre Zweige über fröhlichen tanzenden Menschen ausbreitet. Immer ist da auch ein Brunnen. Manchmal, in diesen stillen Augenblicken, erscheint vor Ursulas Linde eine undeutliche helle Gestalt, die zwischen den Tanzenden schwebt. Die Menschen nehmen sie nicht wahr. Dieses luftige Wesen ist mit dem Baum verbunden. Das spürt Ursula ganz deutlich. Linden haben für sie eine ganz besondere Bedeutung, denn die Linde ist nicht nur der Baum, um den die Dorfgemeinschaft tanzte, sondern auch der Baum, unter dem Recht gesprochen wurde. Gerechtigkeit ist ein Thema, das Ursula ihr Leben lang begleitet.

Gerade kommt es ihr so vor, als würde die Lindenfrau ihr zunicken. Irritiert reibt sie sich die Augen. Alles klärt sich, nimmt wieder scharfe Konturen an. Die Lindenfrau steht still. Oder? Etwas ist verändert. Das hölzerne Kinn weist in eine andere Richtung als zuvor.

Ursulas Augen folgen der Linie, ihr Blick fällt auf den Rücken eines Buches: Die Göttin des Anfangs und das Glück der Tüchtigen. Sie erschrickt, aber nur ein wenig. Dann fühlt es sich so an, als würde ihr Herz hüpfen. Gleichzeitig rastet etwas ein, in ihrem Kopf und in ihrer Seele. Das letzte Puzzle-Teil ist an Ort und Stelle, ergibt ein Bild, das sich über die Jahrzehnte zusammengesetzt hat. Wieder rinnen ihr ein paar Tränen über die Wangen.

Der Weg war lang und beschwerlich. Vierzig Jahren musste sie werden, um in die Spur zu kommen. Im Raum weht auf einmal ein leichter Wind – wie merkwürdig. Ein Rauschen, ein dezentes Lachen. Die Luft vibriert, es schwingt. Die Lindengöttin im Regal leuchtet im Widerschein eines schwachen Strahls der Wintersonne. In der Fläche an der Vorderseite ihres Kopfes erscheint ein Gesicht – kantige Konturen, ein Glitzern in schrägen grünen Augen. Dann ertönt ein Wispern – irgendwo …

„Es ist mir gelungen“, flüstert Ursula. „Ich kenne deinen Namen.“ „Ja“, erwidert die Göttin und zieht sich zurück in die Statue.

Mai 1968

I did it my way …”, schmetterten Dieter und Rainer, während sie um Ursula herumtänzelten und dabei ihre Schulranzen schwangen.

Vor Zorn und Enttäuschung war ihr ganz schlecht. Wer solche Freundinnen hatte, brauchte keine Feinde. In der ersten großen Pause war Ursula mit Petra und Inge auf den kleinen Platz hinter dem Schulgebäude gegangen. Dort hielt sich während der Pause kaum jemand auf. Sie hatten Sängerin gespielt. Heute war einer dieser schönen sonnigen Maitage wie aus dem Bilderbuch, ein Tag, an dem man etwas Beschwingtes tun wollte, zum Beispiel: Sängerin spielen. Petra und Inge hatten ihre Freundin nicht gewarnt, als die Buben um die Ecke kamen. Sie hätte noch rechtzeitig aufhören können. Dieter und Rainer hatten sie sofort nachgeäfft und mitgesungen.

Es gelang ihr gerade so, die Tränen zurückzuhalten, während sie stoisch geradeaus stolperte. Ihre Eltern waren im Geschäft. Wie an jedem Schultag würde sie bei ihrer Oma zu Mittag essen, Hausaufgaben erledigen und dann mit den Cousins spielen oder auf der Chaiselongue in der Küche lesen, die Kinder aus Bullerbü oder Mary Poppins oder ein Märchen, am liebsten Frau Holle. Außerdem hoffte sie darauf, Omas Nachbarin zu treffen.

Über Frau Percht, die ungefähr so alt war wie Ursulas Mutter, redeten die Leute immer noch hin und wieder hinter vorgehaltener Hand. Sie war Künstlerin und lebte seit etwa zehn Jahren in dem Dorf. Einmal hatte Ursula im Foyer des Rathauses der nahe gelegenen Stadt einige ihrer Gemälde gesehen. Voller Staunen und zutiefst berührt hatte sie die schwungvollen Wirbel in Rot- Blau– und Grüntönen auf sich wirken lassen. Nach einer Weile hatten sich die farbigen Wellen zu Gestalten geformt, hingehaucht, ein wenig unwirklich, aber dennoch deutlich: Engel, Feen, Zwerge, Baumwesen, Götter und Göttinnen. Die ungewöhnlichen Bilder passten zu Märchen und Sagen. An den Wänden im Wohnzimmer von Ursulas Eltern hingen nur Blumen und Kirchen.

„Na, da bist du ja endlich!“, rief Oma ihr entgegen, als sie die Diele betrat und ihren Schulranzen abnahm. Wie immer waren Tor und Haustür nicht verschlossen gewesen. „Frau Percht hat gefragt, ob du für sie zur Gärtnerei gehen könntest.“

Sofort hüpfte Ursulas Herz. Vielleicht würde dieser Tag doch noch ein guter Tag werden. Rasch zog sie ihre dünne Übergangsjacke wieder an. „Ich laufe gleich zu ihr“, meinte sie und machte auf dem Absatz kehrt.

„Nach der Erledigung kommst du aber sofort zurück – wegen den Hausaufgaben“, ermahnte Oma.

„Mach ich!“ Und schon rannte sie wieder zur Tür hinaus.

Das Tor vom Nachbarhaus war einen Spalt weit offen, sie schob sich hindurch. Einige Schritte entfernt am anderen Ende des gepflasterten Hofs stand Frau Percht vor dem großen Holunderbusch, hinter dem sich ihr Garten ausbreitete. Auf dem Tisch vor ihr häuften sich Blumentöpfe, Beutel mit Erde und junge Tomatenpflanzen. Jetzt blickte sie hoch und lächelte Ursula entgegen. Wie fast immer hatte sie die langen aschblonden Haare zu einem dicken Zopf geflochten. Ihr Haar erinnerte an die Rinde einer Birke.

„Das ist aber schön, dass du schon da bist.“ Frau Percht wischte sich mit der Hand über die Stirn. Ihre hellgrünen Augen schimmerten.

„Hallo“, stieß Ursula hervor. „Was soll ich denn besorgen?“

„Zwei Holunderpflänzchen aus der Gärtnerei Silba. Die sind bestellt und schon bezahlt.“ So wie sie Holunderpflänzchen sagte, klang es, als wäre es etwas sehr Kostbares.

Schon oft hatte Ursula beobachtet, wie liebevoll Frau Percht mit Pflanzen und Bäumen umging. Sie redete mit ihnen, sang ihnen sogar vor. In ihrem Garten blühten von Februar bis zum Spätherbst verschiedene Blumen und im Gemüsegarten gab es fast immer etwas zu ernten. Einmal hatte Ursula die Nachbarin gefragt, ob sie von Beruf Gärtnerin wäre. Da hatte Frau Percht gelacht und geantwortet: „Ach, ich bin vieles – Künstlerin, Gärtnerin, Heilerin, Hüterin, Geschichtenerzählerin, Köchin.“

Darüber dachte Ursula immer noch oft nach. Das mit der Heilerin und der Hüterin verstand sie nicht so recht. Alle anderen Berufe passten zu Frau Percht. Ihr gefiel es auch, dass man mehr als ein Talent haben konnte.

„Wenn du zurück bist, lesen wir weiter in meinem alten Märchenbuch“, sagte Frau Percht und reichte ihr den großen Korb.

„Oh ja!“ Sie liebte Märchen und ihre Nachbarin besaß ein Buch mit besonders schönen Bildern. Die Märchen waren allerdings ein wenig anders, als Ursula sie kannte.

Frau Holle beispielsweise war nicht immer eine alte Dame, die ihr Haus tipptopp in Ordnung hielt, sondern mitunter eine schöne junge Frau oder sogar eine Riesin. Aber wie bei Goldmarie und Pechmarie ging es immer irgendwie darum, dass die Tüchtigen und Hilfsbereiten von ihr belohnt wurden. Das hatte mit Gerechtigkeit zu tun und das gefiel Ursula. Wer wollte das nicht – gerecht behandelt werden?

Als sie von der Gärtnerei zurück war, setzte sie sich mit Frau Percht auf die Bank unter dem duftenden Holunderbusch. Das Geräusch der sich in einer leichten Brise wiegenden Zweige hörte sich in ihren Ohren an wie der Klang von sehr leisen Flöten. Auch kam es ihr so vor, als würden die Zweige in eine ganz bestimmte Richtung weisen, nämlich in den hinteren Teil des Gartens. Unwillkürlich sah sie zu der Linde am anderen Ende des Grundstücks. Es war eine Winterlinde, die jetzt im Mai blühte. Die Blüten sind auch klein und weiß, überlegte Ursula, wie die des Holunders. Aus irgendeinem Grund freute sie sich darüber.

Frau Percht las ihr das Märchen vom Großmütterchen Immergrün vor. An der Stelle, wo die beiden Kinder das Körbchen mit den frisch gepflückten Walderdbeeren für ihre kranke Mutter bereitwillig in den Schoß einer armen alten Frau leerten, schwante Ursula bereits, worum es ging. Die gebrechliche Alte entpuppte sich als Waldgöttin. Sie hatte die Kinder nur geprüft und gab die Beeren zurück. Wunderbarerweise wurde die Mutter nach dem Genuss der Früchte wieder gesund. Zwei Blumen der Waldgöttin mussten die Kinder in ihr Gärtchen pflanzen. Solange die Familie zusammenhielt, würden die Blumen gedeihen und Gesundheit und Wohlstand bescheren. Nur einmal zerstritten sich die Geschwister. Als die Blumen anfingen zu welken, besannen sie sich und fanden wieder zueinander.

Nachdem das Märchen zu Ende war, schwiegen Frau Percht und sie noch eine ganze Weile.

„Das ist doch wieder die Frau Holle“, sagte sie schließlich.

Daraufhin lächelte Frau Percht. Die Blüten des Holunderbusches wisperten geheimnisvoll und der Duft der Linde wehte zu ihnen herüber.

An diesem Abend, als sie im Bett saß, an ihre Kissen gelehnt, drückte sie das wundervolle Märchenbuch eine ganze Weile fest an ihre Brust. Frau Percht hatte es ihr geschenkt!

In dem Buch gab es nicht nur Märchen, sondern auch Geschichten, die von germanischen Göttern handelten. Dass die gütige Frau Holle aus dem Märchen der Gebrüder Grimm auch als Riesin, Waldgöttin oder runzliges altes Mütterchen daherkam – das wusste sie ja schon. Eine Geschichte über Hel, die Göttin der Unterwelt, zog sie magisch an. Ausgerechnet die! Ursula verstand sich selbst nicht. Mit gemischten Gefühlen begann sie zu lesen. Und dann geschah etwas sehr Seltsames. Mit jeder Zeile wurde sie ruhiger.

Hel, eine der ganz alten ursprünglichen Göttinnen, sammelte die Seelen der Verstorbenen und brachte sie in ihr Reich. Ihre Unterwelt, in die man durch Brunnen und Teiche gelangte, war kein düsterer, schauriger Ort. Bunte Wiesen und heimelige Höhlen empfingen die Seelen. Denjenigen, die ein gutes Leben gelebt hatten, ging es bei Hel sehr gut. Außerdem verkochte die Göttin in einem großen Kupferkessel Krankheiten und Ängste der Menschen, auch der lebenden, damit etwas Neues entstehen konnte.

Die Sache mit dem Kessel begleitete Ursula bis in den Schlaf. Im Traum betrat sie eine helle Höhle. Eine schlanke schimmernde Gestalt, deren Gesicht sie nicht erkennen konnte, rührte in einem großen Kupferkessel. Der Dampf roch nach Holunder- und Lindenblüten. Nach einer Weile füllte die Frau mit einer Kelle etwas von dem Gebräu in einen Becher, den sie Ursula reichte. „Das ist deine Medizin“, sagte sie mit sanfter, etwas rauer Stimme. „Ich bin eine Heilerin und eine Hüterin.“

Oktober 1975

Jedes Mal, wenn sie an dem Haus vorbeiging, versetzte es ihr einen Stich. Es war nicht mehr Frau Perchts Haus. Durch das halb geöffnete Tor erhaschte sie einen Blick auf den Holunder am anderen Ende des Hofs. Jetzt, Anfang Oktober, hingen noch immer die Trauben mit den tiefschwarzen Beeren an den Zweigen. Frau Percht hätte schon viele von ihnen geerntet, Omas neue Nachbarn kümmerten sich nicht darum. Vor zwei Jahren war Frau Percht weggezogen, zurück nach Bayern, um irgendwo im Wald in einer Akademie Kurse für Kunst und traditionelle Heilkunde anzubieten. Als Frau Percht es ihr mitgeteilt hatte, war der Boden unter Ursulas Füßen eingebrochen. Genau so hatte sie es empfunden. Nur das Märchenbuch und ein dicker Wälzer über Kräuterheilkunde waren ihr geblieben.

Besonders an so einem unerfreulichen Tag wie heute hätte sie einen Rat und etwas Aufmunterung gebraucht. Seit Wochen gab es Streit in ihrer Familie. Nachdem sie im September die Realschule abgeschlossen hatte, verlangten ihre Eltern, dass sie so bald wie möglich die kaufmännische Lehre im Lederwarengeschäft ihres Onkels antreten sollte. Alles wäre schon lange abgesprochen und geregelt. Immerhin sollte Ursula einmal das Geschäft der Eltern übernehmen. Aber sie wollte auf keinen Fall Gardinen und Kissen verkaufen.

„Was willst du denn machen?“, hatte ihr Vater am vergangenen Abend mit hochrotem Kopf gebrüllt. „Irgendwas mit Heilkunde oder Kunst oder beides“, hatte sie geschrien. „Was ist das denn für ein Blödsinn?“, hatte daraufhin ihre Mutter gegiftet.

Als sie nun Omas Diele betrat, roch sie bereits den Pflaumenkuchen. Das munterte sie ein ganz klein wenig auf. Nachdem Oma Kuchen und Kakao serviert hatte, setzte sie sich zu ihrer Enkelin an den Küchentisch. „Na“, meinte sie in mildem Ton, „wie sieht es aus?“

Ursula wusste, dass ihre Großmutter auf ihrer Seite stand. „Meine Eltern wollen, dass ich bei Onkel Johann anfange, am besten schon nächsten Montag“, stieß sie hervor. „Sie tun so, als wäre das alles so abgemacht, aber ich wurde gar nicht richtig gefragt.“

„Was würdest du denn gerne machen?“, fragte Oma.

Da gab sie die gleiche Antwort wie ihrem Vater: „Irgendwas mit Heilkunde oder Kunst oder beides.“

„Hm“, erwiderte Oma, „das ist nichts Genaues.“

„Ich kann es einfach nicht richtig ausdrücken“, stöhnte sie.

„Nun!“ Oma wiegte den Kopf hin und her. Für einen Moment hatte sie einen grünen Schimmer in den grauen Augen. „Manchmal weiß man noch nicht genau, was man eigentlich will. Dann kann man etwas machen, was in die Richtung geht.“

Was soll das denn?, fragte sie sich im Stillen.

Oma lächelte über ihren fragenden Blick. „Überleg doch mal, welche Berufe mit Heilkunde zu tun haben.“

„Ach!“ Allmählich dämmerte ihr, was gemeint war.

„Was kommt dir da als Erstes in den Sinn?“, schob Oma hinterher.

„Krankenschwester.“

„Und wie fühlt sich das an?“

„Nicht so ganz richtig.“

„Was gibt es noch?“

„Arzthelferin.“

Oma nickte. „Und wie fühlt sich das an?“

Da schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf ihren Bauch. Zog er sich zusammen? Nein, das tat er nicht. Und dann hatte sie die rettende Idee. „Bei Frau Doktor Simon“, rief sie.

„Das ist eine Hausärztin, die auch Naturheilverfahren anbietet“, erwiderte Oma. „Das könntest du deinen Eltern vorschlagen.“

„Ja, das ist eine gute Idee“, stimmte sie zu. Zum ersten Mal seit langer Zeit schöpfte sie Hoffnung. Vielleicht war es möglich, auf Umwegen dahin zu gelangen, wo man hingehörte? Doch dann fiel ihr noch etwas ein: „Was ist mit der Kunst?“

„Na ja“, meinte Oma, „du kannst wie bisher zunächst einmal zu Hause malen. Bestimmt ergibt sich noch etwas.“

Eine Stunde später machte sie einen Umweg, um sich das von Frau Doktor Simon genauer zu betrachten. Als sie den Holunderbusch im Vorgarten sah, atmete sie auf. Aus irgendeinem Grund war das für sie wichtig. Auf dem Messingschild am Gartenzaun stand: Dr. Helena Simon, Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren. Unter der Schrift war etwas eingraviert. Um das Motiv zu erkennen, ging sie näher heran. Es war ein kleiner Kessel. Da hüpfte ihr Herz und sie dachte, dass sie sich an etwas erinnern müsste. Aber es fiel ihr nicht ein.

In dieser Nacht träumte sie von einem Brunnen, in den sie, ohne zu zögern, sprang. Sie landete auf einer blühenden Wiese. Unter einer Linde rührte eine schimmernde Gestalt in einem Kupferkessel, unter dem ein Feuer brodelte.

Am nächsten Morgen fühlte sie sich merkwürdig beschwingt und so, als wäre sie nicht allein. Am Frühstückstisch erklärte sie ganz ruhig, welchen Beruf sie ergreifen wollte. Das folgende Gespräch verlief viel besser als erwartet. Am Ende stimmten ihre Eltern zu.

Etwas später rief ihre Kunstlehrerin an und lud Ursula zu einer privaten Malgruppe ein: jeden Freitag zwischen 17.00 und 20.00 Uhr.

Sommer 1982

„Doch“, betonte Saraswati mit dem ihr eigenen sanften Lächeln, das in merkwürdigem Kontrast zu ihrer rauchigen Stimme stand. „Ab heute nimmt ein junger Mann an unserem Yoga-Kurs teil.“

„Ach!“, meinte Ursula. Das gefiel ihr nicht. Alles sollte so bleiben, wie es war. In der Gruppe von zehn Frauen zwischen zwanzig und vierzig fühlte sie sich sehr wohl. Die Teilnehmerinnen trafen sich für Yoga‑Asanas, Atemübungen und Meditationen, labten sich an Saraswatis Geschichten aus ihrer Zeit in San Francisco. Vor und nach dem Kurs tauschten sie sich aus und unterhielten sich über alles, was sie bewegte. Das tiefe Gemeinschaftsgefühl endete mit Verlassen des Hauses. Mittlerweile hatten sich sogar Ursulas Eltern mit diesem indischen Kram abgefunden.

„Hallo!“, rief Helga vom Flur aus. Mit ihrem Gruß wehte eine Patschuli-Wolke in den Übungsraum herein. Ihr folgten die anderen Teilnehmerinnen. Alle grüßten und gingen dann in das kleine Zimmer, das als Umkleide diente.

Ursula war früher gekommen, um mit Saraswati zu reden. Die kehrte ihr gerade den Rücken zu und wiegte sich leicht in den Hüften zur leisen Musik vom Kassettenrekorder. Die beruhigende Wirkung der psychedelischen Klänge wurde durch den Duft von Lavendel verstärkt. Wie üblich waren die Jalousien zu zwei Drittel heruntergelassen.

„Ein Kerl!“, presste Ursula hervor. Dabei kam es ihr so vor, als würde sie mit ihrem Ärger die Balance im Raum stören.

„Warum nicht?“, summte Saraswati. Mit diesen Worten drehte sie sich um. Lächelnd neigte sie den Kopf zur Seite. „Gegen etwas männliche Energie ist nichts einzuwenden.“

Das sah Ursula ganz anders. Nach ihrer Trennung von John, einem amerikanischen GI, hatte sie fast ein Jahr gebraucht, um wieder Tritt zu fassen. Eineinhalb Jahre waren sie zusammen gewesen, ihre gesamte Familie hatte sie dafür beschimpft. Wie konnte eine junge Deutsche sich mit einem Ami einlassen! Am Ende hatte sie sich von ihm getrennt, weil sie sich nicht vorstellen konnte, in die USA zu gehen, nach New Jersey, ins Unbekannte. Vergessen hatte sie ihn nicht. Noch immer steckte ein Stachel in ihrem Herzen.

„Entspann dich“, wisperte Saraswati. „Das Leben geht weiter.“

Mit ihrer Yoga-Lehrerin war sie seit dem ersten Kurs vor zwei Jahren befreundet. Saraswati hatte das Ende ihrer Beziehung miterlebt. In der Zeit danach war sie Ursula die wichtigste Stütze gewesen und außerdem die Einzige, die sie dazu ermutigt hatte, Kurse bei Heilpraktikern zu absolvieren.

„Ich bin entspannt“, knurrte sie.

Etwas später, als die Frauen auf ihren Matten saßen und sich leise miteinander unterhielten, darauf wartend, dass Saraswati den Sonnengruß ansagen würde, ertönten eilige Schritte im Flur.

Das konnte nur er sein. Ursula versteifte sich, während sie wie alle anderen zur geöffneten Tür blickte. Dort erschien die Gestalt eines schlanken, ziemlich großen Mannes in Jeans und blauem T‑Shirt. Aschblonde Locken umrahmten ein schmales Gesicht, auf dem sich ein Grinsen ausbreitete.

„Hallo“, flötete Saraswati. „Hallo“, erwiderte der junge Mann, „ich bin Stephan, der Neue.“ „Herzlich willkommen“, fuhr Saraswati fort. „Du hast noch vier Minuten.“ Mit diesen Worten zwinkerte sie ihm zu. „Alles klar!“, meinte er und zwinkerte ebenfalls. Dabei schimmerten seine grünen Augen. Als er sich zur Seite drehte, um in die Umkleide zu gehen, traute Ursula ihren Augen nicht. Auf dem linken Unterarm prangte eine ungewöhnliche Tätowierung: ein Kessel über einem Feuer.

Natürlich – da stand er. Sie ärgerte sich über ihre Erleichterung. Stephan war wirklich hartnäckig. Schon nach dem zweiten gemeinsamen Kurs hatte er gefragt, ob sie noch zusammen in die Sportklause oder die Pizzeria gehen würden. Übertrieben empört hatte sie damals abgelehnt. Jetzt war es anders. Seit gestern fürchtete sie, dass er es nach drei vergeblichen Versuchen aufgeben würde. Irgendwann in den vergangenen drei Wochen hatte sie angefangen, an ihn zu denken. Seine kraftvolle Art, die Asanas auszuführen; seine freundliche und doch zurückhaltende Art im Umgang mit den Frauen, von denen ihn einige geradezu bezirzten. Seine grünen Augen faszinierten sie, der tätowierte Kessel ließ ihr Herz höherschlagen.

Lässig an die Mauer von Saraswatis Haus gelehnt, grinste er sie an. „Lass mich raten!“, meinte er und seufzte theatralisch. „Du bist zu müde.“

„Nein“, gab sie knapp zurück.

Mit einem überraschten Gesichtsausdruck drückte er sich von der Mauer ab. „Und das heißt?“

„Pizza“, presste sie hervor.

Als er erfreut auflachte, lachte sie mit. Wie gut sich das anfühlte! Da fiel ihr ein, was sie unbedingt noch von ihm wissen wollte: „Was machst du eigentlich beruflich?“

„Ich bin Schreiner.“

„Oh!“ Ja, das passte. „Was schreinert ihr denn so?“, setzte sie nach. Gleich darauf schüttelte sie innerlich den Kopf. Was sollte denn diese blöde Frage?

„Möbel und Deko‑Figuren“, erwiderte er ganz ernst. „Wir restaurieren auch alte Möbel.“

„Deko‑Figuren!“, wiederholte sie.

„Ja, genau. Engel, Frauengestalten … solche Dinge.“ Er lächelte.

In ihrem Sonnengeflecht flatterten Schmetterlinge. Die Äste der Linde in Saraswatis Garten bewegten sich sanft im Wind und summten in einer geheimen Sprache.

„Welches Holz eignet sich dafür?“ Hatte sie das wirklich gefragt?

„Lindenholz.“

Januar 2000

An diesem Abend ist Ursula allein und es ist ihr recht. Stephan nimmt an einer Vortragsreihe der Volkshochschule teil: Bäume und ihre mythologische Bedeutung. Im letzten Semester hat Ursula diese Veranstaltung besucht und sie ihrem Mann empfohlen. So wie sie ist er begeistert. Noah, ihr Sohn, verbringt den Abend wieder einmal bei seiner Freundin.

Das Erlebnis vom Morgen hat sie den ganzen Tag begleitet. Mit einem wohligen Gefühl macht sie es sich sitzend auf der Couch bequem, mit einem Kissen im Rücken. Die Schneeflocken, die im Widerschein der Stehlampe vor dem Wohnzimmerfenster wirbeln, scheinen für sie zu tanzen. Ohne den Blick von dem weißen Ballett abzuwenden, greift sie sich das Buch vom Beistelltisch: Märchen aus alten Zeiten.

Ein Gruß von Frau Holle, kommt ihr in den Sinn. Oder von der Lindenfrau oder von Mütterchen Immergrün oder von Perchta … Mit einem Mal fühlt sie sich sehr glücklich. Ich bin richtig, da, wo ich bin, jubelt sie stumm.

Ja und das ist wundervoll, raunt eine Stimme in ihrem Kopf oder im Raum, aber du gehst weiter. Dein Weg ist noch nicht zu Ende. Freue dich!

Text: © Carolin Olivrares / Foto: Carolin Olivares