Buchempfehlung: „Die Mitternachtsbibliothek“ von Matt Haig

Stell dir vor, auf dem Weg ins Jenseits gäbe es eine riesige Bibliothek, gefüllt mit all den Leben, die du hättest führen können. Alles, was du jemals bereut hast, könntest du ungeschehen machen.

Genau dort findet sich Nora Seed wieder, nachdem sie aus lauter Verzweiflung beschlossen hat, sich das Leben zu nehmen. An diesem Ort zwischen Raum und Zeit, an dem die Uhrzeiger immer auf Mitternacht stehen, hat sie plötzlich die Möglichkeit, all das zu ändern, was sie aus der Bahn geworfen hat. Aber kann man in einem anderen Leben glücklich werden, wenn man weiß, dass es nicht das eigene ist? (Klappentext)

Meine Gedanken dazu

Welch eine Vorstellung, im Augenblick zwischen Leben und Tod einen Ort zu betreten, der, geschaffen aus Erinnerungen und chemischen Vorgängen im Gehirn, unseren Neigungen und Leidenschaften entspricht! Für Nora Seed ist es eine Bibliothek, gefüllt mit Büchern, die ihr Leben an der Stelle weitererzählen, an der sie eine andere Entscheidung getroffen hat als in ihrem Ursprungsleben. Indem sie ein Buch auswählt, betritt sie das Leben, das sie in dieser Version oder Zeitlinie gelebt hätte.

Sofort denkt man an Zeitreisende, die bei einem ihrer Aufenthalte in der Vergangenheit etwas verändern und bei der Rückkehr in die Gegenwart in ein anderes Leben eintreten. Mir fällt auch Raumschiff Enterprise ein. In meiner Lieblingsepisode durchquerte die Crew des Sternenschiffs ein Schwarzes Loch, was dazu führte, dass alle an Bord sich in einem alternativen Leben wiederfanden.

Aber zurück zu unserer Protagonistin. Erwartet wird Nora an ihrem Ort jenseits von Zeit und Raum von einem Abbild von Mrs. Elm, der Bibliothekarin aus ihrer Schulbücherei. Dieses Geschöpf aus Erinnerungen und Fantasie erläutert Nora die Zusammenhänge: „Jedes Leben umfasst Millionen von Entscheidungen. Manche groß, manche klein. Doch jedes Mal, wenn man einer Entscheidung den Vorzug vor einer anderen gibt, verschiebt sich das Resultat. Es tritt eine irreversible Veränderung ein, die wiederum zu weiteren Veränderungen führt. Diese Bücher sind Portale zu all den Leben, die dir offen gestanden hätten.“ (S. 41)

Diese faszinierende Vorstellung koppelt Matt Haig an die Theorie der Parallelwelten, also an die Quantenphysik. In seinem Buch ist Hugo, ein Mensch, der wie Nora in der physischen Realität dem Tode nah im Koma liegt und einen Ort jenseits von Zeit und Raum betreten hat, derjenige, der Nora und die Leser aufklärt: „Die Viele-Welten-Theorie der Quantenphysik geht davon aus, dass es eine endlose Zahl von Paralleluniversen gibt. In jedem Moment unseres Lebens betreten wir ein neues Universum. Mit jeder Entscheidung, die wir treffen.“

Und dann verlässt Matt Haig die wissenschaftliche Basis bzw. er denkt über diese hinaus. Das darf er, denn schließlich schreibt er einen Roman, also Fiktion. Im Sinne des Autors führt Hugo weiter aus: „Üblicherweise galt die Annahme, dass eine Kommunikation oder ein Transfer zwischen diesen Welten nicht möglich sei, obwohl sie im gleichen Raum existieren, obwohl sie buchstäblich nur wenige Millimeter von uns entfernt sind.“ Aber genau das tun die Slider. So nennt Hugo diejenigen, die in einem Ursprungsleben mit dem Tod kämpfen und dann irgendwo ankommen. (Vgl. S. 167)

Da stellt sich sofort die Frage, wieso dies alles in einem lebensbedrohlichen komatösen Zustand geschieht. Reuegefühle spielen eine Rolle und der zutiefst empfundene Wunsch, etwas anders gemacht und eine andere Version des eigenen Lebens gelebt zu haben. Nach Hugo ist die „wirre Sehnsucht nach Tod und Leben gleichzeitig“ entscheidend, um in diesen besonderen Zwischenzustand einzutreten. Das Gehirn schafft eine Struktur, ein Bild, eine Szenerie, mit dem der Mensch umgehen kann (S. 171)

Was tut Nora, nachdem sie ihre Situation akzeptiert und zumindest einigermaßen begriffen hat? Sie tut das Naheliegende. Zunächst korrigiert sie Entscheidungen, die sie in Schlüsselmomenten getroffen hat. Damit meine ich die Situationen, denen wir im Nachhinein eine große, mitunter schicksalhafte Bedeutung beimessen. Die Entscheidung für einen anderen Partner, einen anderen Beruf, den Umzug in ein anderes Land. Es sind die Erinnerungen, die uns immer mal wieder dazu veranlassen, alles in Frage zu stellen und uns in dem Was‑wäre-wenn zu verlieren. Danach wendet sie sich den weniger bedeutenden Entscheidungen zu bis hin zu Handlungen, die sie bisher als Nebensächlichkeit eingestuft oder sogar vergessen hatte.

Die Handlung des Romans mit all den Bezügen zur Quantenphysik und zur Philosophie zog mich geradezu magisch an. Fasziniert war ich von der Idee dieser besonderen Orte – geschaffen aus Erinnerungen, Erlebnissen, Gefühlen, chemischen Vorgängen; gespeichert in den Windungen unseres Gehirns; übersetzt in eine verständliche Struktur. Hugo fand sich in einem Videoverleih wieder, andere Komapatienten, das erfuhr Nora von ihm, betraten eine Galerie oder ein Restaurant. Nora wählte Bücher, deren Titel wiedergaben, um welches Leben und um welche Version ihrer selbst es sich handelte. In einer Mitternachts-Galerie suchte der Slider sich ein Gemälde aus, in einem Mitternachts‑Restaurant eine Speise auf der Karte.

Ich war sofort bei Nora, denn ich würde ebenfalls in einer Bibliothek landen. Daran besteht kein Zweifel.