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Eine Fracht für das Museion – Hypatias Traum, Teil 4

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Während Bilkis die Katze streichelte, fuhr sie fort: „Ich bin eine Priesterin der Bastet und der Sachmet. Meine Vorfahren stammen aus Ägypten, Aksum und dem Reich der Königin von Saba.“

Hypatia schluckte. Nun fiel es ihr ein. Bilkis – ein wenig bekannter Name für die legendäre Königin aus dem Süden, die den berühmten König Salomo besucht hatte. Einigen Quellen zufolge hatten sie eine Liebesbeziehung und einen gemeinsamen Sohn.

„Höre nun gut zu, Hypatia von Alexandria!“ Obwohl die Priesterin leise sprach, klang ihre Stimme eindringlich, beschwörend und – mächtig.

„Thot, den schon andere Völker vor den Ägyptern als Gott des Wissens verehrten, und der Leopardendrache haben dir etwas mitgeteilt. Daraufhin hattest du eine Erkenntnis, die der Drache bestätigte.“ Bilkis und die Katze fixierten sie.

Ja, überlegte sie stumm, der Drache hat mir zugenickt.

„Wiederhole, was du ihm geantwortet hast!“, forderte Bilkis. Nun klang sie streng.

Völlig unerwartet wurde ihr schwindlig und Müdigkeit drohte, sie zu übermannen. Es kostete sie Kraft, die Worte zu wiederholen: „Ich will Wissen verbreiten. Ich will Meinungen gelten lassen. Ich will eine Bibliothek mit Wissensschätzen aus allen Teilen der Welt, die allen Menschen zugänglich sind.“

Langsam nickte Bilkis, die Katze schnurrte. Beide behielten sie im Auge.

„Vielleicht ziehst du in Erwägung, es lieber nicht tun“, meinte die Priesterin.

In einer einzigen fließenden Bewegung drehte sich die Katze um und nahm die Stellung einer Sphinx ein. Ihre Augen schimmerten türkis.

„Hüte dich!“, wisperte Bilkis. „Nach einer solchen Begegnung kannst du nicht mehr zurück.“

Das wusste sie bereits und es machte ihr Angst. Sie begann zu schwitzen.

„Nun, Hypatia von Alexandria, deine Zeit ist fast um. Welche Fragen willst du mir stellen? Ich werde dir nur wenige beantworten und es müssen kluge Fragen sein.“

Um der aufkommenden Unruhe in ihrem Inneren Herr zu werden, schloss sie kurz die Augen. Jetzt galt es, gut zu überlegen, um mit wenigen Fragen viele Antworten zu bekommen. Mit der Frage Woher kommt das Schiff, die ihr auf der Zunge lag, würde sie nicht viel erfahren. Einen Moment wirbelten Gedanken und Ideen in ihrem Kopf. Dann öffnete sie die Augen und sagte: „Warum ist das Schiff unterwegs?“

„Ich verstehe immer besser, warum du eine der Auserwählten bist.“ Bilkis lächelte anerkennend. „Sieben Schiffe verließen dereinst ungefähr zu der Zeit, als König Menes Ober- und Unterägypten vereinigte, ihre Heimat, ein hochentwickeltes geheimes Reich weit hinter den Säulen des Herakles. Der Rat wusste, dass der Kontinent untergehen würde. Das Wissen sollte gerettet und in die uns bekannte Welt gebracht werden.“

Da stimmte etwas nicht. „Wie kann das sein?“, begehrte sie auf. „Pharao Menes lebte vor Tausenden von Jahren.“

„Die Menschen dieses Reiches“, fuhr Bilkis ungerührt fort, „kannten sich in unserem Teil der Welt gut aus, denn sie hatten uns seit langer Zeit immer wieder besucht, ohne ihre Herkunft preiszugeben. Wir nennen Sie die Weisen. Als sich der Untergang ihrer Welt ankündigte, suchten sie nach Personen, denen sie ihr Wissen anvertrauen konnten. Die Menschheit insgesamt war nicht reif dafür.“

Das konnte sie sich sehr gut vorstellen. Doch das Ganze machte keinen Sinn. „Wie auch immer“, stieß sie hervor, „das alles ist doch schon lange vorbei.“

Langsam schüttelte Bilkis den Kopf. „Die Auserwählten erhielten Hinweise, wie sie sich finden konnten. Sie gründeten Gemeinschaften. Das Wissen wurde von Generation zu Generation weitergegeben.“

Da war sie – die Bestätigung ihrer Vermutung. Hypatia zweifelte nicht daran, dass Bilkis und Leonidas zu einer dieser Gemeinschaften gehörten. Doch die alles entscheidende Frage war damit nicht beantwortet. „Wieso träume ich davon und wieso ist das alles so lebendig?“, rief sie.

„In die Schriftrollen, Tafeln und Bögen der Weisen war Magie gewoben. Diese übertrug sich auf alle Abschriften, die jemals gefertigt wurden, auch die späteren. Nur dann, wenn ein Würdiger mit einem solchen Träger in Berührung kommt, entfaltet die Magie ihre Wirkung. Der Person werden Botschaften auf besonderen Wegen gesandt und magische Begleiter zur Seite gestellt, bis der Würdige es versteht.“

In diesem Moment wurde Hypatia übel. Bilkis‘ Gesicht begann vor ihren Augen zu verschwimmen. „Bis … der … Würdige … was … versteht?“, stammelte sie.

Wie aus weiter Ferne hörte sie die Antwort der Priesterin: „Den Auftrag.“ Dann fiel sie in Ohnmacht.

Zwei Monate später

Als Hypatia den Wandelgang betrat, verstummten die drei Philosophen, die sich gerade noch unterhalten hatten, und warfen ihr missbilligende Blicke zu. Betont heiter lächelte sie ihnen zu und schritt hoch erhobenen Hauptes weiter.

Auf ihren Erfolg in der Versammlung der Gelehrten des Museion war sie sehr stolz. Sie hatte bereits durchgesetzt, dass die Schriftrollen, Tafeln und Codices in einigen Regalen neu angeordnet wurden. Bisher spiegelten Sortierung und Beschriftung der Werke das Weltbild der Ptolemäer und der Römer. Griechische und römische Werke befanden sich an den am besten sichtbaren Stellen über allen anderen. Außerdem hatte sie mit einem weiteren Vorschlag eine hitzige Diskussion in Gang gebracht. Es ging darum, die Bibliothek des Museion allen Bevölkerungsgruppen zugänglich zu machen.

Was sie allerdings mit noch größerem Stolz erfüllte, war etwas ganz anderes – etwas Außergewöhnliches. Sie hatte es sich angewöhnt, an drei Vormittagen der Woche die Straßen und Gassen von Alexandria zu durchstreifen und den Menschen, die sie ansprachen, die Worte der Philosophen auszulegen. Immer bildete sich schnell eine große interessierte Zuhörerschaft.

Mit einem Seufzer ließ sie sich in ihrer Lieblingsnische auf die Bank fallen. Die erste Begegnung mit dem Drachen war noch nicht allzu lange her. Ein Windzug und ein Knistern kündigten ihn an. Dann tauchte sein Gesicht zwischen den beiden Säulen auf.

Wie geht es dir, Hypatia?

Ganz wunderbar.

Du bist auf deinem Weg.

Ich weiß.

Und doch …! Er seufzte.

Sie erschrak. Was meinst du?

Freiheit!, säuselte er und verblasste.

Was sollte sie damit anfangen? Dem Gedanken der Freiheit hatte sie sich doch nun wahrhaftig verschrieben gegen alle Widerstände und trotz der Gefahr, die ihr drohte.

In diesem Moment betrat Ben, ihr ganz persönlicher Sklave aus dem Hause Theon, die Nische. Rasch senkte er den Kopf, als er sie erblickte. Unwillkürlich schnappte sie nach Luft. Dann stand sie auf, lief zu ihm, ging in die Hocke und löste das Band um seinen Knöchel. Ungläubig starrte er sie an.

Sie nickte ihm zu. „Du bist frei.“

Ganz wunderbar, raunte es in ihrem Ohr.

Der Drache stammt aus dem Kartenset Drachenweisheit von Christine Arana Fader, erschienen im Schirner Verlag.